Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
sturer alter Mensch.«
Wilbert kniete sich vor ihn, zerschnitt vorsichtig den Verband der linken Hand.
»Lässt du dir etwa einen Bart stehen?«
»Yep.«
»Sieht merkwürdig aus. Wächst da nichts?« Ehringer klopfte mit der Rechten auf die stoppelige, löchrige Wange.
»Noch ein Wort, und Sie fahren mit der U-Bahn ins Puff.«
»Besser als mit deinem …« Er tat, als ränge er nach der zutreffenden Bezeichnung.
»Wartburg.«
»Vor dreißig Jahren vielleicht. Heute ist es ein … ein …«
»Wurtbarg?«
»Eher ein Wurmsarg.«
Sie lachten.
Seine linke Hand war unter Weiß verschwunden, nun wurde die rechte bloßgelegt. »Ich weiß drei Dinge«, sagte er. »Erstens, den Vornamen: Dietrich. Zweitens, dass Dietrich als Söldner auf dem Balkan und anderswo gekämpft hat. Und drittens, dass er um 1991 herum in Berlin gewohnt hat. Findet deine Freundin ihn im Internet?«
»Yep«, sagte Wilbert. »Vielleicht.«
»Sag ihr, sie ist ein Engel.«
»Das passt ja mal gar …«
Ehringer griff nach seinem Arm. »Marx!« Er lachte auf. »Dietrich Marx! Der Söldner, der sich immer über seinen Nachnamen geärgert hat!«
»Der Vorname ist auch nicht besser.«
Kichernd sank Ehringer gegen die Lehne zurück.
»Und den wollen Sie besuchen?«
Er nickte. »Falls er noch lebt und in Berlin ist.«
41
FREITAG, 15. OKTOBER 2010
NORDDEUTSCHLAND
»Hol ihn«, sagte Igor.
»Du täuschst dich bestimmt. Er kennt uns, und er ist Marković verbunden wie wir. Er würde uns nicht …«
»Ich täusche mich nicht, Saša. Ich weiß es. Er wird uns verraten.«
Jordan sagte nichts.
Da erklangen die unsicheren Schritte Stjepans auf der Treppe.
»Ein Wort, Kapetan, und der Alte stirbt«, sagte Jordan.
Die Tür wurde geöffnet.
»Ihr raucht hier drin?«
Igor lachte entnervt, Jordan entschuldigte sich.
»Nicht so schlimm«, sagte Stjepan. »Kannst mir auch eine geben, die erste seit Jahren. Hier, was zu essen. Ist nicht viel, mehr hab ich nicht da. Gebt ihm auch was, ich will nicht, dass er in meinem Haus schlecht behandelt wird.«
»Feuer?«
»Klar, ich hatte nicht vor, sie zu essen.« Stjepan kicherte, hustete. Stieß Rauch aus und seufzte skeptisch.
»Brot, Schinken, Käse, Gurken«, sagte Jordan. »Kapetan?«
Thomas schüttelte den Kopf.
»Kapetan? Ist er Soldat?«
»Schon lange nicht mehr.« Jordan erklärte, woher der Spitzname kam.
Da war er wieder, der 25. August 1995, vor den Morden ein Fußballspiel. Am Abend des 24. waren Trupps des HVO zu Thomas’ Regiment gestoßen, gemeinsam hatten sie in der Nähe von Zadolje kampiert. Nach dem Frühstück hatten sie gespielt, Republik-Kroaten gegen bosnische Kroaten, und weil der HVO keine ganze Mannschaft zusammengebracht hatte, hatten Thomas und zwei weitere Kameraden aus dem 134. auf Seiten der Bosnier gespielt.
Nach einer Stunde Spiel der Marschbefehl, die Bosnier hatten 7:6 geführt, Thomas drei Tore geschossen.
Kurz darauf hatten sie in den Straßen von Zadolje gestanden.
»Hier, seht nur«, sagte Stjepan. »Die Waschmaschine leckt. Seit fünfzehn Jahren läuft Wasser aus meiner Gorenje, verdammt. Immer nur ein paar Tropfen, gerade so viel, wie ein Hund braucht, um sein Revier zu markieren.«
»Eine Waschmaschine, die ihr Revier markiert«, sagte Jordan.
»Dabei rennen hier unten keine anderen Waschmaschinen rum.«
Sie lachten.
»Ich habe Ivica angerufen«, sagte Stjepan.
»So?«
»Du weißt, dass sein Vater und ich zusammen mit Josip Broz gekämpft haben.«
»Ja.«
»Vier Jahre Partisanenkampf … und dann war es vorbei, Saša. Irgendwann sagt jemand, der Krieg ist aus, und dann hört man auf zu töten. Weil die Feinde keine Feinde mehr sind, verstehst du.«
»Was sagt Ivica?«, fragte Jordan.
»Dasselbe wie du. Dass der da ein Verräter ist aus dem Vaterländischen Krieg. Ich glaube, er war überrascht, dass er noch lebt.«
»Du musst dich getäuscht haben.«
»Nein, nein, er war überrascht. Wollte sich nichts anmerken lassen, aber ich hab’s trotzdem gemerkt. Ihr werdet ihn töten, oder? Weil ihr denkt, dass die Feinde von früher immer noch Feinde sind.«
Niemand antwortete.
»Ihr werdet ihn töten, vielleicht sogar hier, in meinem Keller.«
»Ja«, sagte Igor.
»Also, hier ist mein Angebot«, sagte Stjepan. »Ihr könnt bis morgen früh bleiben, aber solange ihr hier seid, tut ihr ihm nichts.«
In seiner Stimme lag jetzt ein sonderbarer Klang, und Thomas dachte, dass Igor recht hatte. Stjepan würde sie verraten.
»Abgemacht«, sagte
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