Der Kalte
Sie? Was wollen Sie werden? Darf ich das fragen?«
»Keine Ahnung.«
»Hm.« Ernst Segal schwieg und lächelte. Nach einer Weile stand er auf und legte die ausgegangene Zigarre auf den Aschenbecher.
»Ich danke Ihnen sehr, dass Sie unser Gast sind. Für alle Menschen ist die Befreiung aus der Sklaverei wichtig und nötig, deshalb feiern wir Pessach besonders gern. Sie sind hier immer willkommen.«
Sie gingen zu den anderen zurück. Dolores und ihre Mutter kamen ihnen entgegen. Segal nickte seiner Frau zu, sah
auf seine Armbanduhr und schaltete den Fernseher ein, um die Nachrichten anzuschauen. Als der Bericht von der Pressekonferenz des Johann Wais kam, unterbrachen Segals Gäste die Gespräche und verfolgten die Sendung. Im Anschluss wurde Bundeskanzler Marits um eine Stellungnahme gebeten, und als er sagte: »Ich nehme zur Kenntnis, dass Doktor Wais nicht bei der SA war, sondern bloß sein Pferd«, brach die ganze Pessachgesellschaft mit Ausnahme von Stefan in ein heftiges Gelächter aus. Boaz Samueli konnte mit dem Lachen überhaupt nicht mehr aufhören. Nachdem Stefan sich bei den verbliebenen Gästen verabschiedet hatte, etwas steif und mit leichter Verbeugung, begleitete ihn Dolly noch ein Stück die Straße hinunter. Ecke Nedergasse und Gregor-Mendel-Straße umschlang sie ihn und küsste ihn lange. Schließlich lief sie zu ihrer Wohnung zurück, indes Stefan wie auf Daunendecken die Peter-Jordan-Straße hinunterging.
22.
Als sich Fraul und Rosinger wieder donnerstags beim Praterer trafen – Rosinger kam mit der Überfuhr und Fraul ging wie immer die Schüttelstraße stromabwärts –, stießen sie vor dem Eingang des Praterer aufeinander. Rosinger grinste.
»Das war ja wie ausgerechnet.«
»Was heißt ausgerechnet«, sagte Fraul und öffnete die Tür. »Zufall ist das, nichts als Zufall. Eintreten!« Und er wies Rosinger hinein. Kaum waren sie in der Wirtsstube, rief Fraul »Schach« zum Wirt hin, sodass das Schachkästchen von Vickerl auf den Tisch gelegt worden war, noch bevor die beiden Männer Platz genommen hatten. Vickerl ging zur Theke zurück und brachte die Speisekarte.
»Wollen Sie etwa vorher essen?«, fragte Fraul den Rosinger.
»Ah nein, später. Ein kleines Bier.«
»Dasselbe.«
Fraul schob das Kästchen zu Rosinger. Der öffnete es und leerte die Figuren so auf die Tischplatte, dass einer der schwarzen Türme zu Boden fiel. Beide bückten sich, und ihre Gesichter begegneten einander unter dem Tisch. Rosinger grinste wiederum, während Fraul den schwarzen Turm aufklaubte und zu den anderen Figuren tat.
»Schwarz oder Weiß?«, fragte Fraul.
»Wie Sie wollen.«
»Ich habe Sie gefragt, machen Sie keine Geschichten. Schwarz?«
»Ja, gut.«
Sie stellten die Figuren auf. Fraul griff zu Rosingers Seite hinüber und vertauschte dessen König und Dame. »Steht der König bei Ihrem Fressschach auf dem Platz der Dame?«
»Nein, ein Versehen.«
»Und die Dame auf dem Platz des Königs?«
»Niemals.«
»Dann fange ich jetzt an«, sagte Fraul grob und schob den Königsbauer auf e4.
Fraul begann aggressiv. Sofort riss er Läufer und beide Rösser heraus, versuchte sogar eine Schachmattattacke in vier Zügen, doch Rosinger erwies sich als umsichtiger und vorsichtiger Verteidiger, er war nicht der Anfänger, der auf diesen Trick hereinfiel. Mit dieser Dilettanteneröffnung verausgabte sich Fraul, denn er ließ zusätzlich seine Bauern anmarschieren, vernachlässigte die Deckung, sodass ihm nicht einmal mehr die Rochade möglich war. Nun räuberte er mit ständigem Figurenabtausch herum, spielte fahrig und ungeduldig, während Rosinger in aller Ruhe die jewei
lige Situation überdachte. Es schien Rosinger mit Fortlauf zusehends peinlich zu werden, dass Fraul sich Blößen gab; ein Teil seiner Nachdenkerei bestand darin, sich zu überlegen, ob er diese Blößen ausnützen dürfe. Doch die Furcht, Fraul könnte das bemerken und böse werden, weil es ihn gedemütigt hätte, hielt ihn ab, und so ging die Partie für Fraul rasch verloren. Vor dem Matt nahm Fraul brummend den König vom Brett.
»Revanche!«
Auch mit Weiß spielte Rosinger vorsichtig, gruppierte seine Offiziere im eigenen Feld, rochierte in aller Ruhe und wartete auf Frauls Angriffslust. Fraul aber hatte erstaunt festgestellt, dass die Schachkenntnisse des Rosinger seine Erwartungen übertrafen. Man soll Altnazis nicht unterschätzen, dachte er sich und ärgerte sich sogleich über diesen Gedanken. Ich muss ihn aus der Reserve
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