Der Kalte
sagen, wenn er mich da im Chor hören könnte?
Dolores hat unseren Pakt jetzt ihren Eltern verklickert. Wir haben ausgemacht, dass sie nach der Matura nach Wien zurückkommt, auch wenn sie noch nicht weiß, was
sie hier studieren will. Vielleicht Germanistik. Sie fragte mich, ob ich zu Weihnachten nach Israel komme. Weihnachten ist weit.
9. 10.
Guido hat mir von Fraul erzählt, dass der während einer Probe zu einem neuen Stück zusammengebrochen ist. Kismet.
Vorhin war Helen da und hat mir erklärt, dass sie Schluss macht, sie hat keinen Bock auf zweite Geige. Das find ich okay. Sie ist dann gleich gegangen. Aber es wurmt mich, dass ich mir jetzt einen Korrepetitor suchen muss. Ich sollte mehr Klavier spielen. Ich sollte, ich müsste. Soll sie wegbleiben.
10. 10.
Mit Dolly telefoniert. Beim Tschurtschi bissl Gras.
Den Winter neunzehnsiebenundachtzig/achtundachtzig trafen sich Rosinger und Fraul wieder regelmäßig donnerstags, aßen beim Praterer und wanderten anschließend kreuz und quer in den Praterauen. Sie erzählten sich ihre südpolnischen Geschichten. Anfangs folgte Rosinger zögernd und sich immer wieder verstotternd. Ein fauliger Geschmack breitete sich nach den ersten Sätzen in seinem Mund aus.
Die jeweiligen Spaziergänge bestimmte Fraul, so wie er auch die Spielregeln festlegte. Immer nur eine Geschichte, immer aus dem persönlichen Erleben, keine bereits dokumentierte Story. Letzteres fiel ihm selbst schwer, und so brach er diese Regel öfter, wenn er aus der Erinnerung die Protokolle des Frankfurter Auschwitzprozesses zitierte.
Die Geschichten überwucherten die winterlichen Gänge, sie bildeten eine greifbare Vegetation, welche aus dem kahlen Geäst der Bäume an den Wegrändern herauswuchs, und der scharfe, frische Winterwind, der so gerne die Misteln der Bäume quälte, enthielt einen Geruch. Die beiden kräftigen Winterstürme, welche Fraul und Rosinger im Februar überraschten, rüttelten an ihren Schultern und ließen sie enger zusammenrücken, wenn sie schief gegen sie ankämpften. Fraul fürchtete vor allem die Äste, die abzubrechen und ihnen die Köpfe zu zerschlagen drohten. Rosinger hätte nichts dagegen gehabt, wenn es bei ihm auf diese Weise zu einem plötzlichen Ende gekommen wäre.
In den ersten Märztagen hatte der Frost nochmals kräftig zugelangt und ließ Rosingers Nase rinnen, während er, von eisigen Windböen unterbrochen, seine Geschichte erzählte.
»Der Lagerarzt Heinz Thilo war ein hinterhältiger Hund, das kann man sagen. Es gab im HKB immer wieder Häftlingspfleger, die ihre Kameraden vor Selektionen zur Gaskammer bewahren wollten. Sie kennen sicherlich besser als ich, was für Methoden die dafür hatten. Vor allem warnten sie die Betreffenden, sodass sich die vor der Selektion verstecken konnten. So war das oft.
Thilo winkte mich und Scherpe zu sich, und wir betraten gemeinsam den Block. Der Doktor stellte sich vor die Kranken hin, die vor ihm stramm zu stehen versuchten, die Pfleger zupften heimlich an dem oder jenem Hinfälligen herum. Bevor Thilo angerauscht kam, haben die sicher einigen Kranken Ohrfeigen gegeben, damit die eine gesündere Farbe im Gesicht hatten, das kannte man ja.
Der Thilo zog eine Liste hervor, er hat sie aus einer Mappe herausgenommen, und begann Häftlingsnummern vor
zulesen, und die Betreffenden sollten Hier! brüllen. Na ja, manche konnten nicht mehr brüllen, aber das war dem Thilo egal. Er las weiter und sagte dann: ›Also. Alle, die ich vorgelesen habe und die Hier! gesagt haben, verbleiben. Der Rest besteigt den Lastwagen. Abtreten!‹«
Fraul blieb überrascht stehen.
»Eine Selektion der Versteckten? Das habe ich noch nie gehört.«
»Ich war dabei.«
»Ich glaub es Ihnen, Rosinger. Der Doktor Thilo war ein Schleicher. Als die erste Gruppe der Theresienstädter Juden nach Ablauf der sechs Monate liquidiert werden sollte, wollte man Unruhe vermeiden, denn einige der Theresienstädter ahnten etwas und begannen darüber zu reden. Man hatte ihnen gesagt, sie kämen in ein gutes Arbeitslager. Thilo suchte einige Häftlingspfleger, übergab ihnen Medikamente und ließ sie unter den Theresienstädtern verteilen. Das beruhigte die Gruppe, und so gingen sie ins Gas. Obwohl, auf dem Weg ins Gas werden sie nicht mehr ruhig gewesen sein, sie waren schon ein halbes Jahr in Auschwitz und lebten im Familienlager.«
Hinter dem Lusthaus vor dem Gösser Bierhimmel blieben Fraul und Rosinger stehen. Graue Wolken
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