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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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seinen Weg fort. Würden mich andere als einen rastlosen Gedächtnisakrobaten bezeichnen, dachte er, da er sich an einen Zeitungsartikel erinnerte, in dem einer ihn so genannt hatte. Was denken die Leute von ihm? Es war nicht so, dass er sich ausgesucht hat, die Vergangenheit stets der Gegenwart zu präsentieren; es war eine innere Schubkraft, ein lautlos in ihm arbeitender Motor, der ihn zwang, immer wieder auf die alten Sachverhalte zurückzukommen. Ihr täuscht euch alle, sagte er lautlos, wenn ihr das Personal der Barbarei für historisch erachtet. Der Apotheker Capesius ein Zeitgenosse, Eduard Wirths ein Bewohner der Gegenwart, obwohl er sich bereits neunzehnfünfundvierzig erschossen hatte, Eich
mann ein toter Mann? Dass ich nicht lache. Heute ist der Tag der Rauhaardackel, dachte er, denn schon wieder ging ein Mensch mit diesem Tier an ihm vorüber. Die Frau nickte ihm zu, sodass er beim Weitergehen in seinem Gedächtnis zu suchen begann. Als er an der Salztorbrücke war und zur Ruprechtskirche hinübersah, fiel ihm ein, dass die Hundebesitzerin der Schwester des Wilhelm Rosinger glich, wenn sie es nicht sogar war. Was hat mich die zu grüßen?
    Nachdem er sich seinem Wohnhaus bis auf ein paar Schritte genähert hatte, musste er stehen bleiben. Da stand er und überlegte, was er zu überlegen hatte. Was ist mit mir los? Habe ich vergessen, die Blutdrucktabletten zu nehmen? Als er dies dachte, befeuchtete sich seine Stirn. Er nahm den Hut ab und drehte ihn unschlüssig zwischen den Fingern. Dabei blickte er zu den Fenstern seiner Wohnung hoch. Dunkel. Wieso ist kein Licht in der Wohnung? Mit einem Mal wusste er, was los war. Wie ein Junger sprintete er auf das Haustor zu, riss daran, bis es sich quietschend öffnete, eilte hinein. Zwei Stufen auf einmal hastete er in den zweiten Stock.
    »Da sind Sie endlich«, sagte Frau Stanek. Die Tür der Nachbarwohnung stand weit offen. In ihr weilte Herr Stanek, auf seinen Gehstock gestützt. Als er Fraul erblickte, begann er heftig mit dem Kopf zu wackeln, nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete auf die verschlossene Tür der Fraulwohnung.
    »Die Rettung«, sagten beide Staneks gleichzeitig, dann fuhr Frau Stanek fort. »Sie haben sie abgeholt.«
    »Wohin gebracht?«
    »Ins Spital«, antwortete der Nachbar blöde. »In irgendein Spital.«
    »Nicht in irgendein Spital«, fuhr ihn seine Frau an. »Ins Rudolfspital wurde Ihre Gemahlin gebracht«, sagte sie zu
Fraul. »Da ist sie gelegen, als ich zufällig meine Wohnungstür aufgemacht hab. Wenn ich nicht aus reinem Zufall die Tür geöffnet hätt –, und da ist sie gelegen und hat gestöhnt. Mein Mann hat sofort die Rettung angerufen, gelt, sofort.«
    »Wir haben sofort die Rettung verständigt«, sagte Herr Stanek. »Dahier ist Ihre Frau gelegen und hat gewimmert.«
    Edmund Fraul hörte sich das noch eine Weile an, indes er die Wohnungstür öffnete. Er ging hinein, die Staneks folgten ihm, blieben aber an der Türschwelle stehen. Er ließ seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Sie sah nicht so aus, als sei etwas Besonderes geschehen. Der Sessel stand allerdings etwas schief zum Fenster, und dieses war einen Spalt offen. Auf dem Wohnzimmertisch fand er einen Zettel der Rettungsleute, las ihn, ging zum Telefon, wählte die Nummer des Rudolfspitals. Die Staneks waren zögernd in ihre Wohnung zurückgegangen. Als Fraul herauskam, standen sie beide in ihrer Tür und sahen ihn an.
    »Danke sehr, Frau Stanek, Herr Stanek. Ich fahre hin.«
    »Wünsche Glück«, sagte Frau Stanek. »Ebenfalls«, sagte Herr Stanek.
    Fraul ging die Stufen hinunter. Auf halbem Weg kehrte er um, und zurück in seiner Wohnung, rief er ein Taxi.
     
    Margit Keyntz konnte nicht sagen, dass sie das Gespräch mit Inge Haller erleichtert hatte. Immerhin verlieh es ihrem Schmerz einen Ausdruck, der zwar unzureichend, aber sprachlich war. Auch im Dialog mit den Dingen während der ärztlichen Verrichtungen bohrte sich das Leid nicht weiter in sie hinein, sondern schien zu verharren. Bei den Patientengesprächen war es bloß eine innere Bewegung im Hintergrund, doch als sie nun in der Teeküche
stand, wurde sie wieder von ihm gepackt, sodass sie sich beim Fenster an die Wand lehnen musste. In ihrem Rücken hantierte die Stationsschwester mit Teebeuteln, Margit sah auf die Häuserzeilen hinab. Sie versuchte, als sie die Fenster entlangsah, eine Gesetzmäßigkeit zwischen erleuchteten und finsteren zu entdecken. Ihr war es, als gäbe es einen Rhythmus, der

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