Der Kammerjäger
später beobachtete Klaus, wie Ram6n das Gebäude verließ und auf der 6th Avenue Richtung Greely Square ging.
Da Klaus Bobs Zeitplan bereits kannte und er Ram6ns Strategie durchschaut hatte, wußte er, wann er zurückkommen mußte - weder Bob noch Ram6n brauchten in dieser Nacht irgendwohin verfolgt zu werden. Also beschloß Klaus, zum Spiel zwischen den Knicks und den Pacers im Garden zu gehen. Es war eins der ersten Spiele der Saison, und Klaus war neugierig, wie sich die Pacers seit der umstrittenen Play-off Serie vom letzten Jahr schlagen würden. Indiana war der klare Underdog, und Klaus würde etwas gute Action zu sehen bekommen.
9
Mary stand im Flur und versuchte halbherzig, es sich aus dem Kopf zu schlagen. Aber nach dieser langen Trennung von Bob und der gründlichen Gewissensprüfung konnte sie eigentlich nicht mehr anders. Sie mußte es tun. Sie griff hinauf, packte das baumelnde Seil und prüfte seine Stärke. Entschlossen, ihr Vorhaben zu Ende zu bringen, packte sie das Seil mit aller Kraft, zog es zu ihrem Kopf, am Hals vorbei, bis sich die Klapptreppe in der Decke öffnete. Dann kletterte sie in den gespenstischen Dachboden hinauf, wo die Truhe ihrer Erinnerungen stand, staubbedeckt und mit Spinnweben verankert.
Es war leicht, sich an die Kombination zu erinnern, weil es Bobs Geburtstag war, der zwölfte September. Sie drehte die verrosteten Rädchen auf 9-!-2, und knarrend ging der Deckel auf. Der Geruch von Erinnerungen stieg ihr in die Nase, und sie mußte niesen. Die Truhe enthielt peinliche alte Bilder, High-SchoolJahrbücher und Krimskrams, dessen Bedeutung längst vergessen war. Was zum Beispiel bedeuteten die nicht zueinander passenden Puzzle-Stücke? Sie konnte sich nicht erinnern, aber sie konnte sie auch nicht wegwerfen.
Wie ein Kustos, der ein Hinterzimmer durchstöbert, kramte sie tief unten in der Truhe herum, und da, zwischen den Artefakten ihres kleinen Museums, waren die gesammelten Briefe und Gedichte eines gewissen Bob Dillon. Hätte sein Namensvetter diese Mitteilungen verfaßt, wären sie ein kleines Vermögen wert gewesen. Aber so waren sie schlicht unbezahlbar.
Mary wurde ganz sehnsüchtig beim Anblick der alten Adressen und Briefmarken und Bobs vertrauter Handschrift auf den gelegentlichen «P.S.», die er noch auf die bereits verschlossenen Umschläge gekritzelt hatte. Lächelnd sah sie die spinnigen Ansichtskarten durch, die er ihr geschickt hatte, und schließlich öffnete sie einen der Briefe:
Meine liebe wunderschöne süße Mary,
ich war gerade mitten dabei, eine Arbeit für meinen Kurs < Die Antwort lautet - große Überraschung - die Beatles.
Und wenn Du fragen würdest, wie mein Lieblingskäfer heißt, müßte ich sagen - Dynastes tityus.
Weißt Du, Nashornkäfer gehören zu den größten Coleoptera überhaupt (aus dem Griechischen, bedeutet scheiden-geflügelt), und aus Gründen, die ich nicht erklären kann, finde ich, daß sie auch die romantischsten sind. Es sind riesige Käfer, die in den Tropen eine Länge von fast 18 Zentimetern erreichen. Für mich sind sie die V-8-Maschinen der Insektenwelt mit 454 Kubik Käferstärke, und gleichzeitig sehe ich sie als große Trampel, linkisch und sentimental, die nur versuchen, ihren Herzensschatz zu beeindrucken. Man muß sie einfach so lieben, wie ich Dich liebe.
Ich würde sagen, mein zweiter Lieblingskäfer ist der Bombardierkäfer (Brachinus americanus). Sie sind dunkel-metallisch- blau und gefährlich, genau wie Deine Augen. Wenn sie angegriffen werden, versprühen sie Chinasäure, die auf der menschlichen Haut Blasen verursacht und, das versteht sich von selbst, Fröschen und Ameisen eine Mordsangst macht. Die Säure schießt aus einerTülle an der Spitze ihres Hinterleibs heraus (etwas, was John, Paul, George und Ringo nie zustande brächten). Verliebte Bombardierkäfer lassen nichts kampflos zwischen sich und ihre
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