Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
dessen Ohr. »Ich habe genug gehört, lass uns gehen.«
Nespur schüttelte nur den Kopf und wedelte mit dem Zeigefinger vor Torams Mund hin und her.
Plötzlich hörte Toram ein flatterndes Geräusch und schaute in die Richtung des Feuers. Nur noch eine der Erinyen stand hoch aufgerichtet im Feuerschein – die andere war verschwunden. Doch sogleich entdeckte Toram sie am Rande des Schilfs, nur wenige Schritte von seinem und Nespurs Versteck entfernt. Er duckte sich tief in den nassen Grund, während er das Krabbeln einer Spinne an seinem Hals ignorierte. Die Erinya zeichnete sich vor dem Mond ab, wie Gestalt gewordene Dunkelheit. Schon schnellte die gefährliche Peitsche nach vorne und schlug in das Schilf. Ein Hieb riss die Halme zu Torams Linken, der nächste die zu seiner Rechten in Fetzen. Er schloss die Augen, hoffte inständig, die Widerhaken würden sich als Nächstes nicht in sein Fleisch bohren.
»Hör auf, das Schilf zu töten«, drang Moydanas Stimme durch die Nacht. »Es ist kein würdiger Gegner. Lass uns weiterziehen und Zervana Kunde bringen.«
»Mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört«, meinte Esradal. Noch ein letztes Mal knallte die Peitsche, dann war es vorüber. Toram wagte nicht, den Kopf zu heben.
»Sie sind weg«, hörte er Nespur nach einer halben Ewigkeit sagen. »Und der Braten, den ich so sorgsam zubereitet und mit Wildentenkraut gewürzt habe, ebenso.«
»Das war dein Lagerfeuer?«, wunderte sich Toram. Nespur nickte.
»Woher wusstest du, dass sie kommen würden?«
»Der Wind hat es mir geflüstert.« Damit erhob sich der Fährtenleser und trat aus dem Schutz des Schilfdickichts hervor. Toram blickte ihm erstaunt nach, dann beeilte er sich jedoch, ihm zu folgen.
Nespur trat ans Feuer, ließ sich in die Hocke nieder und betastete die Fußabdrücke, während Toram den vollständig abgenagten Knochen aufhob und beäugte.
»Wie jene, die ich in Hügelwald gesehen habe«, murmelte Nespur. Dann richtete sich sein Blick auf Toram. »Komm, lass uns gehen. Die fünf aus dem Rat haben Entscheidungen zu treffen.«
4. ENTSCHEIDUNGEN
Am nächsten Morgen waren Wolken aufgezogen. Sie hatten sich während der letzten Atemzüge der Nacht über die Meeresenge von Dovan nach Süden geschoben und wurden nun von den gezackten Spitzen der Schroffen Berge regelrecht durchbohrt. Dort hingen sie und warteten auf den Wind, der sie weiter ihres Weges treiben würde. Noch fiel kein Regen vom Himmel, doch er würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Und so verfinsterten die dräuenden Wolken die Herzen der Halblinge von Westendtal ebenso wie die dramatischen Ereignisse der vergangenen Nacht.
Jorim und Enna waren nach ihrem schrecklichen Fund sogleich zu Rimbors Taverne zurückgerannt und hatten davon berichtet. Zunächst waren sie auf Unglauben gestoßen, doch schnell hatten die anderen ihr Entsetzen erkannt und waren ihnen zum Ort des grausigen Geschehens gefolgt. Die Wahrheit war unumstößlich: Selda Korbflechter war tot. Ermordet von Wesen, die den Halblingen nicht bekannt waren. So war während der Nacht helle Aufregung ausgebrochen in dem sonst so verträumten Ländchen namens Westendtal, und nun, im Morgengrauen, hatten sich die verbleibenden vier Ratsmitglieder zusammen mit Jorim und Enna Borkenfeuer in Nordbruch auf der Lichtung des Rauchorakels eingefunden. Natürlich waren noch andere Halblinge gekommen, unter ihnen Elvor Sternenfaust, Ombur Felsenschlag und Jul Mühlenstein. Weitere würden sicher folgen, wenn sie die Kunde von den Ereignissen erst erreicht hatte.
Selda Korbflechter hatte man an der Felsenpforte bei Westendweiler aufgebahrt, von wo aus die Halblinge ihre Toten den Wellen des Wilden Meeres übergaben. Das Volk der kleinen Leute glaubte nämlich, dass dort, wo Sturm und Wasser sich trafen, die Seelen ihrer Verstorbenen von den Winden in die Grünen Gefilde des Jenseits getragen würden.
»Man mag viele Sommer und Winter zurückzählen«, ertönte nun die volle Stimme von Talund Krugbrecher, der wie die anderen Ratsmitglieder auf einem der umherliegenden Findlinge saß. »Doch einen solch erbarmungslosen und grausamen Mord wird man in der Geschichte Westendtals nicht noch einmal finden!«
Zustimmendes Nicken folgte seinen Worten, wie Jorim beobachten konnte. Selbst Elvor, der selten um Worte verlegen war, verhielt sich still – wenigstens für den Augenblick.
»Wir Ratsmitglieder sind uns einig, dass ein solches Verbrechen nicht von Halblingshand ausgeführt
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