Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
des Trinkhauses, leer geblieben war.
»Wahrscheinlich befragen sie und die anderen Ratsmitglieder noch immer das Rauchorakel«, erwiderte Enna. »Als ob es nichts Wichtigeres gäbe.«
»Nespur hat die gleichen Spuren gesehen wie Jul«, sinnierte Jorim und stieg über eine dicke Wurzel. »Irgendetwas geht hier vor sich. Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Ich auch, Jorim, ich auch.«
Wie um ihre Worte zu bekräftigen, erklang in der Ferne der Ruf eines Käuzchens. Normalerweise liebte Jorim es, bei Einbruch der Dämmerung auf der Veranda seines Baumhauses zu sitzen, ein Pfeifchen zu rauchen und den Geräuschen der Nacht zu lauschen oder die wundersamen, leisen Flugmanöver der Fledermäuse zu beobachten. Heute jedoch lag etwas Unheilvolles darin – fast klang der Ruf des Käuzchens verzweifelt.
Wieder stieß der Vogel seinen Schrei aus, und Enna blieb stehen. »Klingt irgendwie schaurig«, flüsterte sie und sah sich unbehaglich um.
»Lass uns weitergehen«, entgegnete Jorim. »Die ganzen Geschichten haben unsere Sinne verwirrt. Morgen sieht der Tag bestimmt ganz anders aus.«
»Hoffentlich hast du recht«, wisperte Enna, und sie wanderten weiter.
Ein ausgetretener Pfad führte sie tiefer in den Eichenwald hinein. Der Blätterbaldachin breitete sich immer dichter über ihnen aus, und nur noch selten drangen die Strahlen des Mondes hindurch. Ein kurzes Stück herrschte vollkommene Dunkelheit, bis sich der Wald wieder etwas lichtete und sie zumindest den Weg vor sich erkennen konnten. Dann hörten sie das wohlbekannte Plätschern eines kleinen Baches, über den eine geschwungene Holzbrücke hinwegführte. Unmittelbar dahinter teilte sich der Pfad. Von dort aus verlief ein Weg nach Süden – diesen musste Enna nehmen. Der andere führte in nördliche Richtung; das war Jorims Weg. An diesem Abend jedoch wollte er seine Schwester nach Hause begleiten.
Während sie über die Brücke gingen, verursachten ihre nackten Füße kaum Geräusche auf dem Holz. Jorim blickte nach links, wo das sprudelnde Bächlein über einige dicke Felsen hüpfte und im Mondlicht glitzerte. Schon wollte er wieder wegsehen, da erregte etwas am Ufer seine Aufmerksamkeit. Jorim blieb stehen, dann machte er einen Schritt zurück.
»Was ist?«, fragte Enna.
Jorim hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Angespannt spähte er nach unten. Irgendetwas war dort, das ihm einen Schauder über den Rücken trieb. Seine Hände krampften sich so fest um das Geländer, dass seine Finger schmerzten.
Langsam trat Enna näher. Wie in Trance deutete Jorim zu der Uferstelle. »Dort, neben dem Farngebüsch. Siehst du es auch?«
Ihr Blick folgte seinem zitternden Finger. Dann schlug sie die Hände vor den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. Dort unten neben einem Farngebüsch befanden sich mehrere Fußabdrücke, die genau so aussahen, wie Jul sie beschrieben hatte: von der Größe eines menschlichen Fußes und ungewöhnlich spitz zulaufend.
Jorim konnte fühlen, wie Ennas Finger sich in seinen Unterarm krallten. »Lass uns gehen, Jorim!« Ihre Stimme bebte vor Angst.
»Wir müssen nachsehen«, entgegnete er.
Er griff ihre Hand und zog sie mit sich. Sie verließen die Brücke und schlichen sich behutsam ans Ufer. Langsam gingen sie auf das Farngebüsch zu. Ihr Atmen erschien Jorim ungewöhnlich laut. Er hatte das Gefühl, als hielte der ganze Wald die Luft an.
Sie erreichten die Fußabdrücke. Jorim holte tief Luft, presste die Lippen aufeinander und schob die Farnwedel beiseite. Das Entsetzen, das ihn packte, hätte nicht größer sein können: Vor ihm lag eine Gestalt, zusammengekrümmt und grausig zugerichtet. Die Kleidung war an vielen Stellen zerfetzt, die Haut, die darunter hervorschimmerte, glänzte dunkel und feucht. Das Gesicht war verzerrt, als hätte es etwas unsagbar Schreckliches gesehen. Eine Hand hielt einen Stein fest umschlossen, die andere war wie zur Abwehr erhoben, die Finger grotesk gekrümmt.
Jorims Mund wurde staubtrocken, Enna drückte sich an ihn und schluchzte laut auf.
»Nun wissen wir, weshalb der Platz am Stammtisch heute leer geblieben ist«, flüsterte Jorim nach einer halben Ewigkeit, wie es ihm schien. Zu ihren Füßen lag der geschundene Körper von Selda Korbflechter, einstiges Ratsmitglied und Vorsitzende von Eichenhain.
Weiter im Osten, im Bezirk Flusstal an den Ufern eines Seitenarms des Erenin, warfen die Flammen eines Feuers ihren rötlichen Schimmer auf das mehr als halblingshohe Schilf. Auf seinem
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