Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
Zervanas Verschwinden eine entsetzliche Leere in Enna aus, in die sie hineinzustürzen drohte. Wie es aussah, war Bronn Sternenfaust tot. Der legendäre Halbling war der Grund gewesen, weswegen sie diese Reise überhaupt angetreten hatten. Allerdings war es weniger die Legende, die Enna vermisste, es war Bronn selbst.
Niedergeschlagen schloss sie die Augen. Sie fragte sich, was wohl fünfzig Erinyen, die die Barrikaden leicht umgehen konnten, in Westendtal anrichten würden. Der übel zugerichtete Körper von Selda Korbflechter tauchte in diesem Moment vor ihrem inneren Auge auf – eine Erinnerung, die sie lähmte.
Bronn Sternenfaust hatte sich nach Norden gewandt. Während er höher in die Berge hinaufstieg, suchte er beständig die Hänge ab. Bereits in seiner Jugend war er in dieser Gegend unterwegs gewesen, doch das lag eine lange Zeit zurück. Mittlerweile hatte sich die Landschaft verändert: Ganze Hänge waren zu Tal gerutscht, anderswo hatten Wald und dichtes Buschwerk die felsige Natur zurückerobert.
Davon ließ sich Bronn aber nicht beirren. Er überquerte einen schmalen Grat, zu dessen Seiten tiefe Schluchten abfielen. Danach folgte er einem kaum erkennbaren Wildpfad nach oben und hielt auf den Rand eines Tannenwaldes zu. Leider musste er erkennen, dass die Bäume zu nah beieinanderstanden und dichtes Unterholz ein Durchkommen unmöglich machte.
Der alte Halbling blieb stehen und sank zu Boden, sein Blick schweifte über die undurchdringliche grüne Wand des Waldes.
»Die alten Mächte«, flüsterte er, dann schloss er die Augen und lauschte dem Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, sog den Duft von Harz und Moos ein. Bronn schob eine Hand unter sein Hemd und zog einen aus Holz geschnitzten kleinen Anhänger hervor, der um seinen Hals hing. Schon lange hatte er diesen nicht mehr berührt.
»Aila«, sagte er leise. Sie war seine Jugendliebe gewesen; das Mädchen, das er nie vergessen hatte. Seine spätere Frau Brenda, Tondurims Mutter, hatte er nie wirklich lieben können, so wie er Ailas Tod niemals überwinden konnte. Damals war er aufgebrochen, hatte Frau und Kind verlassen, um in die Ferne zu ziehen. Er wollte kämpfen lernen, wollte Schutz für Westendtal. In seinen jugendlichen Träumen hatte er sich ausgemalt, Drachen könnten einen solchen Schutz bieten. Doch in Wahrheit war er wohl immer auf der Suche nach dem gewesen, was er durch Ailas Tod verloren hatte: seine eigenen Gefühle, die mit ihr gestorben waren.
Aila war es auch gewesen, die den kleinen Anhänger, ein hölzernes Käuzchen, einst für ihn geschnitzt und ihm als Zeichen ihrer Liebe geschenkt hatte.
Der Waldkauz blickt für dich voraus , hatte Aila ihm damals zugeflüstert. Und so wie seine Augen mühelos die Dunkelheit des Waldes durchdringen, so vertreibt sein Ruf auch die Trauer in deinem Herzen .
Aila hatte all die alten Geschichten gekannt und ihn damit verzaubert. Die verborgenen Wesen der Wälder und der Berge, Drachen und Gulvaren oder die geheimnisvollen Geister der Erde – was schon damals für viele nur Geschichten gewesen waren, hatte die beiden, Bronn und Aila, fasziniert.
»Vielleicht ist es nun tatsächlich an der Zeit, sich der verborgenen Kräfte der Natur zu erinnern«, wiederholte er seine Worte vom Vortag. Er öffnete die Augen und ging weiter, ohne den hölzernen Anhänger loszulassen.
Bronn folgte dem Waldrand, und nach kurzer Zeit lichteten sich die Tannen. Laubbäume mischten sich unter das Nadelgehölz, und auch das Unterholz nahm ab. Das letzte Licht des Tages ausnutzend, schlüpfte Bronn unter die Bäume. Er war nur wenige Schritte in den Wald gegangen, da hörte er einen vertrauten Ruf: den Ruf des Waldkauzes.
Wie angewurzelt blieb Bronn stehen, er konnte es kaum glauben. Tränen schossen ihm in die Augen, seine Hand schloss sich fester um den kleinen Holzanhänger, und endlich hatte er das Gefühl heimzukehren.
So leise er konnte, folgte er dem Ruf des Käuzchens und erreichte bald eine große Lichtung mit einem See, auf dem Seerosen umhertrieben.
Bronn blieb stehen, versuchte sich an diesen Ort zu erinnern, doch es gelang ihm nicht.
Plötzlich nahm er aus den Augenwinkeln ein Licht wahr. Sofort wirbelte er herum. Die Axt in den Händen bereitete er sich auf den Angriff einer Erinya vor. Aber dazu kam es nicht. Das Licht, das sich ihm näherte, war heller als eine Erinyen-Fackel und lebendiger. Fast schon fröhlich schwirrte es durch die Luft, sprang hierhin und hüpfte dorthin, sodass das
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