Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
vor Westendtal waren sie blindlings den Erinyen in die Arme gelaufen und hatten dadurch vielleicht die Möglichkeit, ihr Volk vor dem Untergang zu bewahren, verspielt.
Gedankenverloren strich Enna mit einer Hand über das Ei, besann sich dann aber und zog sie rasch wieder weg, um nicht die Aufmerksamkeit der Erinyen darauf zu lenken.
Enna hatte keine Vorstellung gehabt, was die Zahl Dreißigtausend bedeutete. Jetzt wusste sie es, und der Anblick war schwer zu ertragen. Wie eine dunkle Flut breitete sich das feindliche Heer vor ihnen aus, verlor sich in der Ferne und verschmolz dort mit der hereinbrechenden Dämmerung. Wo grünes Gras, Felsen oder Blumen hätten sein müssen, überzog der Feind – ähnlich einer üblen Krankheit – jene bergige Landschaft, die unmittelbar vor den Vergessenen Tälern lag. Tausende glimmende Fackeln pulsierten überall, tänzelnde Flammen, stets bereit, sich zu einer alles verschlingenden Feuersbrunst zu vereinen.
Der Geruch von ranzigem Leder und Schweiß stach in Ennas Nase, vermischte sich mit fauligem, an halb verwestes Fleisch erinnernden Gestank, wie er von Ghulen verströmt wurde.
Enna vermied es, den Kopf zu heben, denn sie wollte den Erinyen nicht in die Augen sehen. Zwar verfiel sie dabei nicht dem Wahnsinn wie die Menschen, aber ihr Herz begann dann zu rasen, und sie war sich sicher, es würde zerspringen, wenn sie ihren Blick nicht rechtzeitig abwandte.
Immer weiter führte man sie in das feindliche Lager. Auf einer Anhöhe, die oben abgeflacht war, hielten sie schließlich an.
Der Erinya namens Yorak, der Jorim vor dem Tode bewahrt hatte, wartete dort bereits und unterhielt sich leise mit einer schlanken Gestalt, der lange schwarze Haare über den Rücken flossen.
»Die Gefangenen, Usurpatorin«, sagte er, als er Enna und Jorim erblickte.
Die Gestalt drehte sich langsam um. Auch wenn Yorak sie eben nicht mit ihrem Titel angesprochen hätte, so hätte Enna dennoch gewusst, Zervana von Myrador, die Anführerin der Erinyen, vor sich zu haben. Schlagartig wurde Ennas Mund trocken, ihr Herz begann heftig zu pochen, und überall brach ihr der Schweiß aus. Sie musste all ihre Kraft aufbringen, um nicht den Mut zu verlieren.
Behutsam schob sich Bronn rückwärts. Noch einmal war er auf den Hügel geklettert, von dem aus sie die Erinyen erblickt hatten. Doch jetzt war ihm der Atem gestockt: Dort unten lagerte ein riesiges Heer! Wenigstens hatte er eine Erinya getötet – einen von dreißigtausend Feinden.
Mühsam erhob er sich. Seine alten Knochen rebellierten, und an seiner Brust pochte ein beißender Schmerz. Einige der Widerhaken hatten sich in sein Fleisch gebohrt, dort, wo sein offen getragener Umhang ihn nicht geschützt hatte. Notdürftig hatte er die Wunde mit einem Stück Stoff aus seinem Umhang verbunden und war froh, dass er sich beim Sturz nichts gebrochen hatte. Halblinge waren zwar klein, aber ihre kurzen, kräftigen Knochen brachen nicht so schnell wie die einer Erinya. Dies verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung und ließ ihn grimmig lächeln. Dass Enna und Jorim von den Erinyen gefangen genommen worden waren, minderte seine Zufriedenheit jedoch rasch wieder. Und die Erkenntnis, dass er die Geschwister wohl niemals aus den Händen dieser feindlichen Armee würde befreien können, traf ihn hart in seiner Ehre.
Doch dieses Mal würde sich Bronn Sternenfaust nicht mit dem Borkentrunk verbünden! Nein, er würde einen Ausweg finden. So schnappte er sich seine kleine Steinaxt und schlich in westlicher Richtung davon, denn er hatte ein Ziel.
Gemessenen Schrittes kam Zervana von Myrador näher. Enna wollte wegsehen, doch es gelang ihr nicht. Auf schaurige Weise war sie fasziniert von dem Anblick dieser Frau. Der lange, offene Umhang gab den Blick frei auf Fackel und Geißel, die in Halterungen am Gürtel steckten. Das bleiche Gesicht der Frau, so hart und scharf geschnitten es auch war, wirkte makellos. Doch im nächsten Augenblick erkannte Enna, dass das ganze Antlitz an sich ein einziger Makel war: Die Bosheit und Verderbnis, die in den Augen dieser Frau lagen, machten es dazu.
»Ein kleines Volk, aber ein äußerst emsiges«, säuselte sie, trat vor Jorim und hob sein Kinn mit einem ihrer knochigen Finger an.
Kurz schien Ennas Bruder zu schwanken, doch er erwiderte den Blick der Erinya, zumindest einen Moment lang.
Zervana griff nach Jorims Hand und strich dann mit ihren Fingern fast zärtlich über seinen Handrücken. »So kleine Hände«, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher