Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
Mitglied des Rates, noch einmal ausgesprochen wurde, bekam der Tod seines Großvaters einen endgültigen Charakter – und wer wusste schon, was mit Jorim und Enna geschehen war? Trauer breitete sich in ihm aus, und zwar in einer Intensität, wie er sie zuvor noch nie erlebt hatte.
Er fühlte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte, und als er den Kopf hob, sah er in Talegrins dunkle Augen. »Bronn haben wir zwar gesehen, erstarrt zu Stein, aber was die Geschwister angeht – keiner von uns hat ihre Leichen zu Gesicht bekommen, und deshalb«, er drückte Elvors Schulter, »besteht noch Hoffnung.«
Talegrins Worte waren nur ein schwacher Trost, doch Elvor versuchte, sich an ihnen festzuklammern und neuen Mut aus ihnen zu schöpfen.
»Also, kein Wort zu den anderen«, sagte Ambrin und sah ihnen verschwörerisch in die Augen. »Kein Wort davon, dass Talegrin und ich die letzten der Sternenfaust-Gefährten sind.«
Sternenfaust-Gefährten. Ein schönes Wort, wie Elvor fand. »Wenn wir das hier überleben, wird es sie wieder geben«, flüsterte er leise.
»Wie bitte?« Eren sah ihn fragend an.
»Ach, nichts! Ich habe nur mit mir selbst geredet.«
Talegrin musterte ihn eingehend, und Elvor fragte sich schon, ob er seine Gedanken erraten hatte.
Doch da ging plötzlich ein Raunen durch die Halblinge. Hälse reckten sich neugierig empor, und Gesichter blickten nach Süden. Die Sonne hatte den Zenit überschritten und befand sich auf ihrem Weg nach Westen. Daher lag so manche Stelle in den tiefen Tälern im Schatten. Dieser allerdings wurde nun von Tausenden von Fackeln verdrängt – Erinyen-Fackeln!
»Die Feuerschlange«, murmelte Elvor.
Wie gebannt beobachteten die Halblinge den Zug der Erinyen. Niemand sprach ein Wort. Weiter flussaufwärts, dort, wo der Erenin in einem Bogen aus dem dahinterliegenden Tal herausströmte, wurden immer mehr ihrer Feinde sichtbar. Leise kamen sie näher, es gab keinen Lärm, keine Trommeln, kein Kriegsgeschrei. Allerdings genügte das Lodern erhobener Erinyen-Fackeln, um Schrecken zu verbreiten. Schnell füllte sich das Tal wie mit einer dunklen Flut. Und bald waren sie so nahe, dass ein jeder sie sehen konnte. Die wenigsten der Halblinge hatten bislang eine Erinya erblickt. Das Entsetzen, das in ihren Gesichtern stand, war dementsprechend groß.
Zerschlissene und zerfetzte Mäntel wallten um die Beine hochgewachsener, magerer Frauengestalten, bleiche Haut schimmerte durch die Löcher und Risse ihrer Umhänge. Kapuzen verhüllten Gesichter, verbargen noch die erschreckenden Erinyen-Augen – doch sicher nicht mehr lange.
»Ich kann keine Ghule erkennen«, wunderte sich Talegrin plötzlich.
Elvor spähte über die Barrikade hinweg. Tatsächlich konnte auch er nirgends die gedrungenen, geduckten Gestalten der Ghule ausmachen. Überhaupt kam ihm das feindliche Heer – so beängstigend groß es noch immer war – kleiner vor als in jener Nacht, in der er es in der Nähe von Arboron gesehen hatte.
»Vielleicht haben wir mit unserer Lawine doch mehr von ihnen erschlagen, als wir dachten«, überlegte Elvor.
»Möglich.« Talegrin fuhr sich durch die Locken.
»Ich hoffe nur, der Rest von ihnen schleicht nicht durch die Berge auf Westendtal zu«, sagte Ambrin und beäugte misstrauisch die Berghänge.
»Die Gegend dort ist wenig geeignet für einen Heeresdurchmarsch«, erwiderte Talegrin.
Während das feindliche Heer näher rückte, ließ Elvor seinen Blick kritisch über die auf dem Wehrgang stehenden Halblinge schweifen. Viele hatten Pfeile an Bogensehnen gelegt oder hielten Steinschleudern oder Messer umklammert. Doch ihre Hände zitterten, wodurch so mancher Pfeil gegen die Pfeilauflage klapperte und drohte herunterzufallen. Elvor wusste, was zu tun war. Auch er hatte Angst; nur ein Narr würde heute keine verspüren. Aber er musste seinem Volk Mut zusprechen, und wenn es nur dazu diente, seine eigene Furcht niederzuringen.
»Halblinge!«, rief er so laut wie möglich, um das Rauschen des Flusses zu übertönen. Dabei schritt er auf dem Wehrgang entlang. »Halblinge, hört mich an! Ich bin Elvor Sternenfaust, ein Großmaul, wie manche wissen – aber ich bin auch der Enkel von Bronn Sternenfaust!« Er rang sich ein Lächeln ab, aber niemand erwiderte es, daher fuhr er unbeirrt fort. »Ich weiß, ihr alle habt Angst – so wie ich auch! Heute bestreiten wir einen Kampf, wie wir ihn noch nie haben austragen müssen: Es ist der Kampf um Westendtal. Doch ich sage euch eins: Wir
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