Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
allem Anschein nach war es Yorak wirklich gelungen, Unfrieden zwischen Ghulen und Erinyen zu stiften, denn Enna und Jorim hatten bereits Gruppen von Ghulen gesehen, die nach Südosten abgezogen waren. Deshalb hatten die zwei sich rasch auf die oberen Talhänge zurückgezogen, um sich am Rande eines Waldes zu verstecken. Weite Bereiche waren in dieser Gegend mit Bäumen bewachsen, die ihnen Deckung bieten würden. Nun blickten die Geschwister hinab auf den Erenin. Der breite Strom glitzerte in der Sonne wie ein silbernes Band und strömte ein ganzes Stück unter ihnen friedlich dahin.
»Und?«, unterbrach Jorim mit vollem Mund Ennas Gedanken. »Was ist jetzt mit dem Ei?«
Enna seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Seit ihrer Gefangenschaft hatte sie nicht mehr gewagt, das Ei in die Hand zu nehmen, doch nun holte sie es vorsichtig heraus.
»Sieh nur! Es hat sich verändert!«, rief sie erstaunt.
Neugierig beugte sich Jorim über das Ei. »Stimmt! Die hellroten Streifen waren vorher noch nicht da«, stellte er fest.
Enna nickte. »Sie sehen aus wie Adern.«
»Die Schale sieht aus wie das Kristallgestein im Tunnel des Drachenkraters«, meinte Jorim.
»Und es fühlt sich rauer an als zuvor.« Behutsam glitten Ennas Finger über das Ei, so als befürchte sie, es könnte durch ihre Berührung zerbrechen.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Jorim wissen.
»Wenn ich das nur wüsste.«
»Vielleicht schlüpft der Drache bald.«
»Oder der Gulvar!«, fügte Enna hinzu.
»Egal, was es auch sein wird: Es folgt demjenigen, den es als Erstes erblickt.«
»Nur weil Hanafehl das behauptet hat, muss es noch lange nicht so sein.«
»Nun«, Jorim hob die Schultern, »ich denke, das finden wir bald heraus.«
Enna wiegte bedächtig den Kopf. »Ich glaube, du schlüpfst tatsächlich bald«, sagte sie leise, ohne den Blick zu heben. »Aber du wirst uns nicht helfen können, weil du dann noch viel zu klein sein wirst, nicht wahr?«
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist schwanger und sprichst zu deinem ungeborenen Kind«, murmelte Jorim.
Enna schmunzelte. »Es hört sich vielleicht seltsam an, aber mir kommt es fast so vor. Irgendwie habe ich das Gefühl, zwischen mir und dem Wesen in dem Ei gibt es eine Verbindung, die mit jedem Tag ein wenig stärker wird.«
»Leider hilft uns das im Moment nicht weiter, Schwesterherz.« Jorim rieb sich den Nacken. »Wie du schon sagtest, selbst wenn es rechtzeitig schlüpft, wird das Wesen, was auch immer es ist, zu klein sein, um für uns zu kämpfen.«
»Das stimmt«, pflichtete Enna ihm bei. »Wir können uns aber auch nicht einfach hier verbergen und nichts tun.«
»Das werden wir auch nicht! Wir müssen nachsehen, was in Westendtal vor sich geht. Immerhin haben wir seit gestern nur Ghule zu Gesicht bekommen und kein einziges Fackelweib.« Jorim tippte sich nachdenklich mit dem Finger an die Lippen. »Wir ziehen einfach hier oben im Schutz des Waldes Richtung Westendtal. Früher oder später werden wir schon auf den Rest des Heeres treffen.«
Enna nickte und verbarg das Ei wieder unter ihrem Umhang. Dann brachen sie bangen Herzens nach Westendtal auf.
Elvor, Talegrin und die anderen Halblinge hatten die Wolfsklamm durchwandert und folgten nun einem breiten Seitental nach Norden. Heute hatte die Sonne es endgültig geschafft, den Nebel in den Tälern zu vertreiben, nur hier und da trieben noch einige Fetzen des wallenden Weiß umher. Tautropfen, die an Gräsern oder Spinnennetzen hingen, glitzerten silbrig. Eine Idylle lag über dem Land, wie sie angesichts der nahenden Bedrohung nicht trügerischer hätte sein können.
Elvor Sternenfaust hatte dementsprechend keinen Blick für die Schönheit der Natur. Er musste an all die Frauen und Kinder und Alten denken – Halblinge, um die er sich sonst nie geschert hätte – und hoffte, sie waren bereits auf dem Weg nach Nordbruch. Kurz überlegte er sogar, ob er jemanden ausschicken sollte, um nachzusehen, entschied sich dann aber dagegen. Sie würden jede Hand an der Barrikade brauchen.
Irgendwann gegen Mittag drang das Rauschen des Erenin an ihre Ohren, und sie setzten ihren Weg ein Stück nach Osten fort. Sie folgten einem schmalen Grat an einer Felswand entlang, und als sie schließlich ein kleineres Plateau erreichten, hielten sie an und schauten nach unten.
»Dort drüben«, rief Talegrin und deutete mit seinem Dolch hinab in ein weitläufiges, zerklüftetes Tal. Elvor folgte seinem
Weitere Kostenlose Bücher