Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
geschehen war, verstanden in diesem Augenblick, wer das Licht der Welt erblickte. Die Welt war in steter Veränderung, das war sie schon immer gewesen. Heute jedoch musste sich ein ganzes Zeitalter diesem Wandel beugen. Daher breiteten Drache und Gulvar ihre Schwingen aus, und einer nach dem anderen flogen die beiden Wächter nach oben, stiegen durch das Innere des Drachenkraters in die Lüfte. Immer wieder streiften ihre gewaltigen Flügel die Bergwände, rissen Gesteinsbrocken heraus, die krachend zu Boden stürzten. Sie erreichten die Öffnung des Kraters, die unter einem gewaltigen Flügelschlag des Drachen auseinanderbarst, und endlich waren sie frei. Beide drehten ab, nach Norden – dorthin, wo nun alles begann.
Die Frau griff dem kleinen Mädchen in die langen schwarzen Haare und schleifte es mit sich. Schließlich gab sie ihm einen derben Stoß, sodass die Kleine stürzte und sich die Knie aufschlug. Tapfer schluckte sie den Schmerz hinunter und krabbelte weiter bis zur Felswand. Dort drehte sie sich um, drückte den Rücken gegen die Wand und sah zu der Erinya auf. Sterne blitzten über ihr, funkelten hell in ihrer silbrigen Pracht. Die Schönheit des Abendhimmels verlieh dem hässlichen Antlitz der Erinya nur noch mehr Schrecken. Ein bösartiges Grinsen legte sich auf das Gesicht der Frau, als sie sich in die Hocke niederließ und dann ihre Fackel vor das Mädchen hielt. Sogleich loderten die Flammen auf, enthüllten das Antlitz der Erinya in seiner ganzen Abscheulichkeit.
»Von nun an wirst du salziges Wasser trinken«, zischte sie. »Du wirst Schmerzen erdulden lernen, so lange bis sich der Hass, der einer jeden Erinya innewohnt, aus deinen Qualen und deiner Pein erhebt!« Die Erinya brachte ihren Kopf näher an das Mädchen heran. »Kennst du Hass, diesen mächtigsten aller Gebieter? Nichts wird dir mehr Kraft verleihen als er!«
Die Kleine schluckte. Sie wusste, sie war nicht allein. Allen Kindern reinblütiger Erinyen erging es so. Und wenn sie den Hass gefunden hatten oder er sie, dann vergaßen sie die Qualen und den Schmerz. Sie begruben ihn, tief in ihren Seelen. Der Hass war das Geheimnis ihrer Kraft, und er brannte ein Leben lang, würde eines Tages die Fackel nähren, mit der sie sich verbanden.
Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe, es weinte nicht. Viele Zyklen lang hatte es keine Tränen mehr vergossen, hatte das Kind, das es war, tief in sich begraben .
Die Frau, zu der das Mädchen geworden war, Zervana, die Anführerin der Erinyen, weinte nun. Tränen rannen über ihr Gesicht, als sich der Blick aus diesen kleinen dunklen Augen tief in ihre Seele bohrte und dort freilegte, was unter ihrem brennenden Hass verborgen lag.
Es dauerte, bis sich ihr tränenverschleierter Blick klärte. Erst dann erkannte Zervana von Myrador, dass die beiden Augenpaare, die sie ansahen, zu einem Gulvaren gehörten, dessen winzige Köpfe sich ihr neugierig entgegenreckten. Es war tatsächlich ein Gulvar, und er hatte sie erblickt! Doch es geschah nicht, was sie erwartet hatte. Weder starb sie, noch überkam sie ein Gefühl berauschender Macht, weil der Blick des Gulvars sie nicht getötet hatte. Stattdessen breitete sich eine endlose Leere in ihr aus, wie eine kahle Steppe, die von gewaltigen Stürmen leergefegt worden war. Ob dort jemals nachwachsen konnte, was vernichtet wurde, wusste sie nicht.
Zervanas Hände schlossen sich um die Fackel, wollten sie auflodern lassen. Allerdings nicht um zu töten, denn dieses Verlangen war plötzlich verschwunden. Eher war es ein instinktiver Reflex, der sie dazu bewog. Sie spürte die Wärme der Fackel, hörte sogar das leise Knistern, doch mehr geschah zu ihrem Erstaunen nicht.
Die Flamme eines Drachen ist die Mutter allen Feuers, erklang eine Stimme in ihrem Kopf.
Was gerade vor sich ging, war für Zervana von Myrador sonderbar. Sie war sich selbst fremd geworden.
Immer mehr Risse entstanden, breiteten sich in gezackten Linien auf der Schale des Eies aus. Dann knackte es erneut. Ein weiteres kleines Horn wurde sichtbar, und schließlich schob sich der Kopf eines winzigen Drachen durch die harte Schale. Es war ein roter Drache. Seine Augen blickten Enna an, sahen tief in sie hinein.
Flammen loderten auf, und Enna sog vor Schreck die Luft ein. Dann rannte Jorim los, sie hinterher. Andere Halblinge versuchten, das Feuer zu löschen, doch es war bereits zu spät. Bis zu den Baumwipfeln loderten die Flammen empor, verzehrten die Hütte ihre Eltern, ihren Vater
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