Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
ihrer Anmut und Schönheit auch so viel Unerschrockenheit ausstrahlte. Doch da wurde Enna abgelenkt, sie glaubte, eine Bewegung unter ihrem Umhang zu spüren. Enna öffnete ihn ein wenig und betrachtete das Ei – nichts. Dann legte sie ihre Hände darauf und schloss die Augen.
Bring mich zu ihr!
Wieder erklang die Stimme in ihrem Kopf, wie ein Geist, der sich in Worten manifestierte. Doch Enna verstand nicht, warum das Wesen im Ei plötzlich zu Alvendorah wollte …
Bring mich zu Zervana von Myrador!
Schlagartig öffnete Enna die Augen und starrte hinüber zu der Erinya, deren Gesicht sich gerade zu einer bösartig lächelnden Grimasse verzog.
»Es gibt kein Ende auf dem Weg einer Fackelträgerin, Elf! Genauso wenig wie es im Lichtschein einer Erinyen-Fackel Schatten gibt.«
Eine solche Reaktion auf Gwendalons Aufforderung war zu erwarten gewesen. Gwendalon bat auch kein zweites Mal, schon hörte Enna das leise Schaben seiner Klinge, die er aus der Scheide zog. Eintausend Elfen spannten sich an, zogen Waffen und legten Pfeile an die Sehnen ihrer Langbogen.
Bring mich zu ihr!
Die Stimme wurde eindringlicher, fordernder.
»Erinyen!« Zervanas Stimme schnitt durch die Luft, kalt und klar wie Eis. »Vereint die Feuer!«
Eintausend Erinyen bildeten eine Reihe, schnell und präzise. Sie standen eng beieinander, Schulter berührte Schulter. Dann hielten sie ihre Fackeln vor sich, eine neben die andere, und ließen diese knisternd auflodern. Ein Fauchen hallte plötzlich von den Bergwänden wider, als sich die Flammen der einzelnen Fackeln miteinander verbanden und zu einer massiven Feuerwand wurden.
Doch die Elfen blickten noch immer emotionslos drein. Sie schienen keine Angst zu haben, waren bereit für den Kampf – und für den Tod.
Bring mich zu ihr, jetzt!
Die Stimme durchdrang Ennas Gedanken mühelos, übertönte selbst die Geräusche der prasselnden Feuersbrunst.
Enna konnte nicht mehr anders. Wie in Trance setzte sie einen Fuß vor den anderen und schritt auf die Erinyen zu.
»Enna!«
Jorims Schrei hörte sie zwar, doch sie ging weiter. Sie konnte spüren, dass ihr jemand folgte, wandte sich jedoch nicht um.
»Enna, was tust du?«, zischte ihr eine Stimme ins Ohr. Es war Jorim, aber Enna blieb nicht stehen. Allmählich spürte sie die Hitze des Feuers, und ihre Wangen begannen zu glühen. Ihre Augen wurden trocken, sodass sie immer wieder blinzeln musste. Ennas Blick fiel auf Zervana. Wie ein dunkler Fleck zeichnete sich die Anführerin der Erinyen hinter den Flammen ab. Enna trat näher, noch einen Schritt, und noch einen. Schließlich blieb sie stehen – und legte das Ei vor sich auf den Boden.
Zervana hob die Hand, und da fiel die Flammenbrunst in sich zusammen.
Die Usurpatorin starrte Enna an. Offene Verwirrung lag in ihren Augen. »Du gibst mir das Ei? Freiwillig?«
»Ich … weiß nicht …«
Zervana kam nun näher, bis sie vor Enna stand. Sie blickte hinab auf das Ei, das mit unzähligen dunkelroten Linien überzogen war, roten Adern, die sanft pulsierten.
Langsam ging Zervana in die Hocke. Allem Anschein nach hatte sie die Welt um sich herum vergessen, besaß nur noch Augen für das Ei.
Enna erging es nicht anders, ihr eigenes Herz schien im selben Rhythmus zu pochen, schien eins zu werden mit dem des Eies. Sie beugte sich zu ihm herab.
Dies war der Moment, im dem ein kleines Horn die Eierschale durchstieß, und schon bildete sich ein langer gezackter Riss. Ein knackendes Geräusch erklang und hallte durch die Vergessenen Täler. Es war so laut, dass es überall zu hören war. Nicht nur hier, nicht nur in Westendtal, sondern überall – und die Welt hielt den Atem an.
42. DIE MUTTER ALLEN FEUERS
Der Drachenkrater erzitterte. Risse bildeten sich auf der zerfurchten Oberfläche des großen Kegelberges, und Steine sowie die gebleichten Knochen gefallener Drachen und Gulvaren polterten an seinen Hängen herab.
Im Inneren bäumte sich der Silberdrache auf. Er hob den Kopf und spähte durch den gigantischen Kamin hinauf, dorthin, wo das endlose Blau des Himmelsgewölbes zu sehen war. Dann öffnete er das Maul und spie Feuer. Eine Säule gleißender Flammen raste durch den Drachenkrater empor, schoss hoch oben ins Freie und erstreckte sich in den dunkelblauen Himmel, wo die ersten Sterne zu blinken begannen. Auch sein Gegenstück, der mächtige Gulvar, legte die beiden Köpfe in den Nacken. Kurz darauf vermischte sich sein Brüllen mit den tosenden Flammen.
Beide wussten, was
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