Der Kampf der Insekten
war nur Chen Lus tiefes und gleichmäßiges Atmen, und ein unruhiger Seufzer von Rhin.
Der Fluß wurde breiter, und seine Strömung verlangsamte sich.
Eine Stunde verging … eine weitere. Dieser Welt, durch die seine Kapsel lautlos dahinglitt, bedeutete Zeit nichts. Eine müde Einsamkeit erfüllte Joao. Wir werden es nie schaffen! dachte er.
Es ging gegen Morgen, als Chen Lu mit einem Grunzen erwachte. Er setzte sich ächzend aufrecht, begann seinen steifen Nacken zu massieren, gähnte. Seine noch schlaftrunkene Stimme brach die Stille: »Dieser Fluß, ist es wirklich der Itapura, Joao?«
»Sicher weiß ich es nicht, Doktor. Aber ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit ist achtzig Prozent.«
»Welches ist die nächste Ortschaft?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich bin mit den Verhältnissen im Norden nicht so vertraut. Der Itapura fließt in den Araguaia, und am mittleren Araguaia gibt es verschiedene Siedlungen – Lamacal, Lapa und ein paar andere. Aber sie liegen alle in der roten Zone, und ich weiß nicht, ob die Regierung sie hat räumen lassen. Die nächste größere Stadt ist San Joao do Araguaia, wo dieser in den Rio Tocantins mündet. Aber bis dorthin sind es weit über tausend Kilometer auf dem Fluß.«
»Und bis zu den anderen Siedlungen, die Sie erwähnten?«
»Ungefähr sechshundert.« Er spähte in Rhins schlafendes Gesicht, dann wandte er den Kopf und sagte leise: »Wissen Sie, Doktor, wie der portugiesische Namen des Itapura ist? Rio das Mortes, Fluß der Toten.«
»Ein schlechtes Omen. Gibt es viele Stromschnellen, Wasserfälle und dergleichen vor uns?«
»Ob es Wasserfälle gibt, weiß ich nicht, aber mit Stromschnellen müssen wir bestimmt rechnen. Ihre Zahl und Gefährlichkeit hängt von der Jahreszeit und dem Wasserstand ab.«
»Wir werden die Stromschnellen überfliegen müssen.«
»Viele Wasserungen wird dieses Ding nicht aushalten«, sagte Joao. »Der rechte Schwimmer …«
»Die Leute haben gute Arbeit geleistet; der Flicken wird halten.«
»Hoffen wir es.«
»Sie haben traurige Gedanken, Joao. Das ist nicht die richtige Einstellung zu diesem Unternehmen. Wie lange werden wir zu diesen Siedlungen unterwegs sein?«
»Drei Wochen, mit Glück. Haben Sie Durst?«
»Ja. Wieviel Wasser haben wir?«
»Dreißig Liter. Wenn wir mehr brauchen, müssen wir an Land gehen und Flußwasser abkochen.«
Sie tranken beide. Das Wasser war warm und schal. Weit weg rief ein Vogel mit flötender Stimme: »Tuta, tuta, tuta!«
»Was war das?« flüsterte Chen Lu.
»Ein Vogel … nur ein Vogel.«
Joao seufzte. Der Vogelruf hatte die abergläubische Vergangenheit seines Volkes in ihm geweckt und erfüllte ihn mit dunklen Vorahnungen. Er starrte in die Dunkelheit, sah Leuchtkäfer über dem rechten Ufer in einem jähen Hexentanz durcheinanderschießen.
Eine weitere Stunde verging. Chen Lu war wieder eingeschlafen. Graues Licht kroch über den Fluß, der Osthimmel färbte sich rot. Eine Horde Brüllaffen begrüßte den neuen Tag mit heulenden Schreien. Ihr Aufruhr weckte die Vögel überall im schützenden Dunkel des Urwalds: ein Zwitschern und Trillern in allen Tonlagen begann, begleitet von rauhen Krächzlauten und wildem Kreischen.
Perlmuttfarbenes Licht gab der Welt um die treibende Kapsel Tiefe und tilgte die schwarzen Schatten aus den überhängenden Wänden des Urwalds, ließ die Flammen schmarotzender Orchideen aufglühen. Die Kapsel trieb langsam und still. Weit voraus sprang ein großer Fisch aus dem Wasser und fiel patschend zurück.
Rhin erwachte, richtete sich auf, reckte ihre Arme und starrte flußabwärts. Der Fluß zwischen den hohen Bäumen war wie das Schiff einer Kathedrale.
Sie gähnte, lächelte Joao zu … und blickte plötzlich verstört und ängstlich, als ihr die Situation bewußt wurde. Sie schüttelte ihren Kopf und sah sich nach Chen Lu um.
Der Chinese lag auf dem Rücken, die Arme auf der Brust verschränkt, selbst im Schlaf diszipliniert, das Gesicht von eiserner Ruhe. Sie hatte das Gefühl, eine umgestürzte Statue eines Idols aus der Vergangenheit seines Landes zu sehen. Auf seiner Oberlippe und am Kinn zeigte sich ein dünner Bewuchs grauer Bartstoppeln. Plötzlich wurde ihr klar, daß Chen Lu sein Haar färbte. Es war ein Zug von Eitelkeit, den sie bei ihm nicht erwartet hatte.
»Kein Lufthauch«, sagte Joao.
»Aber es ist kühler, finde ich«, sagte sie.
Sie blickte aus dem Fenster und sah, daß sich ein Gewirr von Zweigen, Schilfgras und Wasserpflanzen am
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