Der Kartograph
anders sein konnte. Dieser Mann mit seinem unbedingten Willen, das zu beweisen, dieser Dickschädel mit seiner messerscharfen Intelligenz, der bereit war, Mauern niederzureißen, um ans Ziel zu kommen, das war ein Mann wie er. Einer mit derselben Sehnsucht im Herzen, demselben inneren Feuer, einer Raserei, die gleichzeitig wärmte und verbrannte. Denn mit jeder neuen Erkenntnis wurde die Gewissheit größer, dass ein Leben nicht ausreicht, um alles Wesentliche zu erforschen, ja, noch nicht einmal einen Bruchteil davon. Und jedes Mal wurde das Fieber stärker, dieses Getriebensein dringlicher, ebenso die Sucht zu wissen. Oh ja, Gauthier Lud kannte diese Besessenheit, die einen Mann nicht mehr losließ, ihn mitten in der Nacht aus dem Bett trieb, die ihn ebenso krank machen konnte wie die unerfüllte Lust nach einem Weib. Waldseemüller war einer, der in die Runde der Gelehrten nach Saint-Dié passte. Er fasste sich an den sorgsam gestutzten Vollbart, der schon einige graue Strähnen aufwies, und seine klugen grauen Augen blitzten.
«Ihr könnt Eure Hand behalten. Ihr werdet sie noch dringend benötigen. Ich habe ein Exemplar der Perspectiva. Ja, es ist genau dieser Jean Pélerin», bestätigte er. «Die Grundlagen haben wir übrigens bei unseren gemeinsamen Forschungen in Saint-Dié gelegt. Ich freue mich auf die Arbeit mit Euch. Ein Mann wie Ihr, der bei Gregor Reisch die Sieben Künste studierte, ist für uns wie von Gott gesandt. Ein Magister der Theologie, ein Mann, der sich nicht nur auf die Druckkunst bestens versteht, sondern auch auf die Mathematik, die Kosmographie, die Geographie, die Kartographie, der den Baum der Philosophie in Reischs Margarita philosophica erklommen hat bis ins oberste Geäst! Aber das sagte ich ja bereits.»
«Ihr macht mich verlegen», winkte Martin Waldseemüller ab.
«Unser Freund Gauthier Lud stellt sein Licht außerdem etwas unter den Scheffel», mischte sich Philesius ein. «Wir lernten uns bei den Vorbereitungen für seine Kosmographie Speculi Orbis kennen. Ihr müsst Euch dieses geniale Werk einmal von ihm erläutern lassen. Er versteht sich nicht nur darauf, sein Vermögen zu vermehren, er versteht auch den Lauf der Welt und der Gestirne. Aber nicht nur das, er hat zudem einen Weg gefunden, das anschaulich zu machen. Schon bevor er die Texte Vespuccis kannte – ja, auch er ist ein Freund unseres großen Seefahrers –, hat er eine stereographische Projektion einer Weltkugel erdacht, müsst Ihr wissen. Aber das ist jetzt nicht die Zeit für lange Ausflüge in Himmels- und andere Sphären, lasst es Euch am besten ein anderes Mal von ihm selbst erklären.»
Martin Waldseemüller verkniff es sich, Lud von seiner guten Meinung abzubringen. Die schon fast kindliche Begeisterungsfähigkeit dieses Mannes für jede Form des Wissens zog ihn unwiderstehlich an. Von der ersten Sekunde war für ihn klar, dass das auch für ihn die ersehnte Antwort des Himmels auf seine Gebete war. Bei Lud in Saint-Dié würde er die Unterstützung und die geistige Atmosphäre finden, die er brauchte, um sein großes Werk zu vollenden.
Selbst wenn er in Straßburg nicht in Gefahr gewesen wäre, er wäre nach Saint-Dié gegangen. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als mit einem Mann wie diesem zu studieren, zu forschen, den eigenen Geist mit dem seinen zu messen, zu schärfen.
Gauthier Lud nahm ihn gleich am nächsten Tag mit. Grüninger hatte aufgrund der tragischen Umstände ohnehin keine Zeit, sich mit ihm über den Aufbau einer Druckerei zu beraten. Er umarmte Martin Waldseemüller herzlich und ließ ihn ziehen. Jean Grüninger wusste, es war besser so, auch wenn mit den Arbeiten des talentierten Künstlers Ilacomylus möglicherweise gute Geschäfte zu machen gewesen wären. Immerhin hatte sein Gast eine ausgezeichnete Nemesis gefertigt. Er hatte sich auch schon ausgemalt, in welches Druckwerk er sie einzufügen gedachte. Wenigstens das würde ein guter Handel werden.
Matthias Ringmann hatte noch Arbeit bei Grüninger zu erledigen. Er versprach jedoch, sobald als möglich nachzukommen und auch beim Aufbau der neuen Druckerei von Saint-Dié mitzuhelfen. Spätestens, wenn der originale Ptolemäus vorlag, würde er kommen, um die Übersetzung vom Griechischen ins Lateinische zu besorgen.
In der Nacht vor der Abreise zogen Ilacomylus und Philesius Arm in Arm von einer Straßburger Schenke in die andere. «Ich finde, wir sollten endlich auf du und du anstoßen», erklärte Martin Waldseemüller
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