Der Kartograph
Vespucci ihm hatte zukommen lassen. Sie hatten es ihm geglaubt.
Florenz brauchte die Aussichten, die die Lettera implizierten, auch wenn es vielleicht nur eine vergebliche Hoffnung war. Die Menschen mussten glauben, dass ihr Gonfaloniere in der Lage war, die Republik wieder in die Reihe der mächtigen Handelsnationen zurückzuführen. Nicht nur das, sie mussten überzeugt sein, dass er ihnen den Weg in neue Paradiese zu großen Reichtümern weisen konnte. Vor allem aber, dass Florenz und die Florentiner die Medici nicht dazu brauchten. Piero Soderini war sich bewusst, wie unsicher der Stuhl war, auf dem er saß, und wie schnell man als Regent von Florenz sein Leben verlieren konnte. Dieses Schicksal hatte auch den Mönch Girolamo Savonarola ereilt. Er war daran nicht ganz unschuldig gewesen.
Es kannte einige, von denen er wusste, dass sie gerne selbst auf seinem Stuhl gesessen hätten. Andere sehnten einfach nur die alten Zeiten zurück, in denen die Medici die Stadt wie absolutistische Könige beherrscht hatten, in denen Lorenzo der Prächtige die Florentiner mit dem ganzen Pomp, dem ganzen Reichtum des Medici-Clans geblendet hatte. Die Familie hatte noch immer einen großen Kreis von Anhängern unter den Patrizierfamilien der Stadt. Und das einfache Volk hängte seine Fahne nach dem Wind. Erst hatten sie die Medici gepriesen, dann waren sie in Massen zu den Predigten Savonarolas geströmt und später hatten sie gejubelt, als er hingerichtet worden war. Nun, auch Lorenzo de’ Medici war tot. Sein arroganter Sohn Piero hatte die Macht jämmerlich verspielt. Jetzt war Giovanni der Herr des Hauses, ein skrupelloser Opportunist im Kardinalspurpur. Diesen Gegner durfte er nicht unterschätzen. Er hatte sicherlich keine der Demütigungen vergessen, die seine Familie nach dem Sturz hatte hinnehmen müssen.
Auch Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici, der Herr des Bankhauses und ursprüngliche Empfänger der Nachrichten Vespuccis, war gestorben. Die Schergen der Signoria, seine Schergen, hatten dessen Palast ebenfalls sofort nach Pierfrancescos Tod von oben bis unten durchsucht, alles auf den Kopf gestellt. Nichts. Giovanni de’ Medici, dieser heuchlerische Kardinal von Papas Schatulle Gnaden, war ihm zuvorgekommen, hatte dafür gesorgt, dass alle wichtigen Unterlagen bereits verschwunden waren. Auch an ihn kam er nicht heran. Er war zum Vertrauten des Papstes aufgestiegen, während er an dessen Sessel sägte. Doch die Lettera , seine Lettera , würden Bestand haben. Die Menschen glaubten, dass die Briefe von den Quatuor navigationes erzählten, dass sie auf Berichten beruhten, die Vespucci über seine Reisen verfasst und nur an ihn, den Gonfaloniere von Florenz, geschickt hatte. Jedermann dachte, sie seien gute Freunde. Schließlich hatten sie zusammen studiert. Doch die Loyalitäten des Seefahrers gehörten nicht ihm, sondern den Medici. Das hatte Vespucci unmissverständlich klar gemacht. Wenn das bekannt wurde, konnte die Partei der Medici sehr schnell wieder Oberwasser bekommen. Er hatte einfach handeln müssen.
In Wahrheit hatte er die Reisebeschreibungen des Seefahrers nie vollständig zu Gesicht bekommen, nur Teile davon, die kursierten. Auf eine gewisse Weise waren die ganzen Quatuor navigationes eine geniale Erfindung. Er hatte sie nie gesehen, niemand, den er kannte, hatte sie je in Händen gehalten. Dennoch waren die Erzählungen über weitere sensationelle Schilderungen aus Vespuccis eigener Feder durch Florenz gegeistert, seit Juan Vespucci, der großmäulige Neffe des Seefahrers, einmal im Rausch damit angegeben hatte, dass noch andere, streng geheime Reisebeschreibungen seines Onkels existierten. Er hatte sofort seine Chance gesehen und sie ergriffen. Kolumbus war vier Mal auf Entdeckungsfahrt gegangen. Dann waren es wohl bei Vespucci ebenso viele Fahrten gewesen, also Quatuor navigationes . Er war noch immer zufrieden mit diesem Titel.
Die Vespuccis würden ihn nicht verraten, schließlich kam die Indiskretion von ihnen. Außerdem wollte die Familie in Florenz ungestört ihren Geschäften nachgehen. Amerigo und seine Sippe wussten genau, dass er viele Möglichkeiten hatte, ihnen Steine in den Weg zu legen.
Alles war in bester Ordnung gewesen und jedermann glücklich. Bis dieser Waldseemüller auftauchte. Er konnte das ganze sorgsam erdachte Trugbild zum Einsturz bringen. Ein Mann, der plante, eine Seekarte mit den Wegen zur neuen Welt zu schaffen, der von einem vierten Erdteil sprach, musste mehr
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