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Der Kartograph

Der Kartograph

Titel: Der Kartograph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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einzige, große Landmasse bilden könnten. Wenn er sich doch nur sicherer wäre! Er bekam die Idee
trotzdem nicht mehr aus dem Kopf. Es gab jedenfalls keine
Beweise für das Gegenteil. Eine einzige Landmasse. Er sprang
auf, ging ans Fenster und starrte hinaus, ohne wirklich etwas
zu sehen. Sollte er diese Möglichkeit einfach unter den Tisch
fallen lassen, nur weil er sich nicht sicher war? Durfte er das?
Was, wenn er den neuen Erdteil wenigstens in der kleinen Karte Vespuccis in der Krone der Weltkarte trotz aller Unsicherheiten so darstellte? Zumindest als Möglichkeit, als Blick in die
Zukunft, in der weitere große Entdeckungen zu machen sein
würden.
Er ging zurück an den Arbeitstisch. Mit fliegenden Händen
fertigte er erneut eine grobe Skizze, wie dieser Erdteil aussehen könnte. Er dachte an die Papiere, die zusammen mit Pélerin
verschwunden waren. Der Stift in seiner Hand zitterte, als er
absetzte. Es sah noch immer ungeheuerlich aus. Und war doch
so logisch.
Es klopfte an die Kammertüre. Er runzelte die Stirn, er wollte jetzt nicht gestört werden. Nicht ausgerechnet jetzt. Hastig
rollte er die Blätter zusammen, die sich auf seinem Tisch befanden, die ausgemusterten Entwürfe, die den Boden pflasterten,
fegte er mit dem Fuß unter seine Bettstatt.
Es war Gauthier Lud. Er trug eine Schale dampfende Erbsensuppe. «Ich dachte, ich bringe Euch etwas zu essen, sonst fallt
Ihr noch vollends vom Fleisch. Was ist es denn, was Euch so
sehr hier festhält, dass Ihr Euch gar nicht mehr sehen lasst?» Waldseemüller zögerte, sein Blick wanderte von der Papierrolle zu Gauthier Lud und zurück. Dann entrollte er den Bogen, an dem er zuletzt gearbeitet hatte. «Das ist die vergrößerte
Skizze des linken Teils der Kartenkrone, des westlichen, um genau zu sein. Ihr müsst wissen, ich habe zunächst die östliche und die westliche Hemisphäre in einer kleineren Ausführung gezeichnet und sie Ptolemäus und Vespucci zugeordnet, jenen Männern, die man mit Fug und Recht als ihre ‹Väter› bezeichnen kann. Außerdem habe ich alle neu entdeckten Gebiete jenseits des Atlantiks zu einem Erdteil zusammengefasst», erklärte er ruhig, so, als wäre dies völlig selbstverständlich. Dabei schlug ihm das Herz bis zum Halse. Was würde Lud wohl dazu
sagen? Er war nach Pélerin sein zweiter Prüfstein.
Gauthier Lud blickte ihn entgeistert an. «Was wollt Ihr damit
sagen? Wie – zusammengefasst?»
«Erinnert Ihr Euch an die Papiere, die verschwunden sind,
und was ich Euch damals erzählte? Nun, ich hatte darauf eine
einzige Landmasse gezeichnet, die sich im Norden kurz oberhalb des Äquators verjüngt und sich zwischen dem 60. nördlichen und dem 50. südlichen Breitengrad erstreckt.» «Soll das heißen, Ihr glaubt wirklich, dass die Gebiete im Norden über eine Art Landbrücke mit jenen Territorien zusammenhängen, die Portugal und Spanien für sich beanspruchen?» «Ja, das glaube ich.»
«Das ist ja fantastisch. Seid Ihr Euch wirklich sicher?» «Nein, das bin ich nicht. Noch immer nicht. Doch diese Überzeugung hat sich verfestigt. Lacht mich nicht aus – ich spüre,
dass es so sein muss. Mein ganzer Sinn für Proportionen, für
Geographie, alles, was Vespucci und die anderen über die Territorien mitgeteilt haben – ach, nein ich kann es nicht beweisen.
Aber ich kann es auch nicht ausschließen.»
«Edepol, wie Ihr immer zu sagen pflegt, mein Freund Ilacomylus, das ist kühn», befand Gauthier Lud. Er machte eine
Pause, dann gab er sich einen Ruck. «Aber Ihr seid hier der
Kartograph. Ich denke, wir sollten auch diesen Weg mit Euch
gehen. Dennoch!» – er zögerte. «Nein, Engherzigkeit bringt
uns jetzt nicht weiter. Trotzdem, was haltet Ihr davon, in der Kartenkrone die Möglichkeit anzudeuten und in der Karte selbst zwischen den Landmassen die Meerenge einzuzeichnen,
von der Ihr ursprünglich spracht?»
Martin Waldseemüller nickte. «Ihr habt Recht. So lassen wir
beide Möglichkeiten offen, bleiben in der großen Karte auf der
sicheren Seite.»
Wieder stürzte sich der Kartograph von Saint-Dié in die Arbeit. Die Wochen vergingen. Er hatte inzwischen schon den
fünften Holzschnitt für die große Weltkarte fertig, einen weiteren für den östlichen Teil der Welt. Die Arbeit an der westlichen Hälfte der Welt hatte er zurückgestellt, immer in der
Hoffnung, dass die Lettera Soderinis endlich eintreffen würden. Er konnte schließlich nicht mit allen Druckstöcken bis zur
letzten Minute warten und hielt sich deshalb

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