Der Kartograph
einfach auslöschen wie eine Kerzenflamme. Er konnte sie nur verdrängen, wegschieben, versuchen, nicht daran zu denken. Er stürzte sich erneut wie ein Besessener in die Arbeit. Er riss Jean Basin die Lettera förmlich aus der Hand, am liebsten hätte er jedes übersetzte Wort einzeln bei ihm abgeholt.
Eines Abends saß Martin Waldseemüller mit Jean Basin sowie Gauthier und Nicolas Lud in der Bibliothek. «Ah, hier, ist dies nicht wunderbar! Endlich kann ich meine Berechnungen komplettieren! Vespucci selbst bestätigt, was ich mir ausrechnete. Wir kommen unserem Ziel immer näher.»
Gauthier Lud nickte. «Ich kann gut verstehen, wie glücklich Ihr darüber seid, Ilacomylus. Doch achtet weiter darauf, dass Ihr nicht nur lest, was Ihr lesen wollt. Unsere These wird vielen kritischen Stimmen standhalten müssen.»
Glücklich, hatte Gauthier Lud gesagt. Nein, glücklich war er nicht. Er führte das oft einsame Leben eines Gelehrten, der sich nur mehr einer, wenn auch sehr fordernden Geliebten verschrieben hatte, der Wissenschaft. Die Karte war inzwischen zu einem Anker geworden, der ihn wenigstens am Leben hielt, ihn weitermachen ließ. Noch immer schlummerte irgendwo in ihm diese alte Begeisterung, das Gefühl, Teil von etwas Bedeutendem zu sein. Doch alles hatte sich hinter einem halb durchsichtigen Vorhang versteckt, wich zurück, wann immer er danach greifen wollte, um es hervorzuholen. Er kam sich vor wie ein Träumer.
Etwas von dem einstigen Enthusiasmus schwang dennoch in seiner Stimme mit, als er zitierte:
«Auf der Fahrt durch den hitzigen Erdstrich kamen wir so weit nach Süden, dass wir die Mittellinie berührten und sowohl den einen als den anderen Pol am Ende unseres Gesichtskreises stehen hatten. Nunmehr sind wir so weit über die Mittellinie hinausgekommen, dass wir den Stern des Nordpols verloren haben und kaum noch den kleinen Bären sehen.
Weil ich nun begierig bin, der erste zu sein, der die Gestirne am anderen Pole abzeichnet: so versäume ich manche Nacht den Schlaf darüber. Ich habe vier Sterne angemerkt in der Gestalt eines Mandelkerns.
Wenn ich doch nur diese Sternenkarte hätte, von der Vespucci schreibt! Wenn ich doch nur mit dem großen Entdecker selbst sprechen könnte! Ich wäre in der Lage, manches noch besser zuzuordnen, besonders was die Entfernungen anbetrifft. » Martin Waldseemüller hatte kein einziges Mal in sein Manuskript schauen müssen, um diese Sätze zu zitieren. Er hatte ein außerordentlich gutes Gedächtnis.
«Mandelkern, ja, ich erinnere mich. Als ich die Beschreibung zum ersten Mal hörte, dachte ich, es sieht aus wie ein Kreuz des Südens, weiß der Teufel warum», meldete sich Nicolas Lud zu Wort. «Ich verstehe ja Eure Hoffnung auf eine Begegnung mit Vespucci, Ilacomylus, aber ich glaube nicht mehr daran. Wenn er sich bis jetzt nicht gemeldet hat, wird er es vielleicht niemals tun. Wir können nicht darauf warten.»
«Ich weiß, die Zeit drängt. Es ist schon fast zwanghaft. Ich muss mich einfach immer und immer wieder vergewissern, dass ich richtig rechne, richtig schlussfolgere. Vespucci hat uns diese Perlenkette an Hinweisen geliefert, eine nach der anderen. Und ich gehe sie immer wieder durch wie eine fromme Frau den Rosenkranz. Hört doch einfach weiter. Ihr müsst es doch auch sehen, das ist eine dieser Perlen, von denen ich spreche.
Es ist mir geglückt, zu bestimmen, dass wir der Breite nach sechzig und einen halben Grand von der Stadt Cadiz entfernt sind. Was die Länge anbetrifft, so weiß ich kein besseres Mittel, dieselbe auszufinden, als bei Nachtzeit den Stand eines Planeten gegen den anderen anzuschauen; im gleichen die Bewegungen des Mondes gegen die übrigen Planeten. Die Beobachtungen habe ich mit dem Kalender des Regiomontanus verglichen, der auf den Mittagszirkel der Stadt Ferarra gerichtet ist, und diesen mit Hilfe der Tafeln des Königs Alphonsus auf meinen gegenwärtigen Fall gebracht. Dergestalt ergründete ich, dass wir dreizehnhundertundsechzig und zwei Drittel Meilen von Cadiz entfernt sind.»
Er schaute die drei Männer Zustimmung heischend an. «Also, seht Ihr, es ist eigentlich gar nicht so schwer. Gutenberg, dem Meisterdrucker aus Mainz, sei es gedankt, dass ich die Karte von Regiomontanus auch in die Hände bekam, ebenso später die Tafeln des Königs von Kastilien. Ich ließ beides glücklicherweise bei meinem Onkel in Basel, so dass sie mir erhalten blieben und nicht bei dem Einbruch damals in Basel verloren gegangen sind.
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