Der Katalysator
Arme aus und zog ihn über sich, und wieder begann sie sich unter ihm zu bewegen.
Dies war das goldene Geschenk der Zeit, die Entschädigung für alles, was gewesen war, und alles, was folgen würde. Er dachte an Billy, und es gab keine Vergangenheit. Er würde bei Mary liegen, und es würde nichts als die Gegenwart geben, und diese Augenblicke würden ewig andauern.
„Jetzt!“ flüsterte er seiner Frau zu. Erstaunt. Ein juwelenschimmerndes Crescendo. Und vorüber. Ein Nachklang wie von Wogen, die sich im unendlichen Meer brachen.
Dann schliefen sie ein.
Nach einer Weile weckte sie etwas. Ein schwaches Leuchten an der Decke und oben an den Wänden. Hatte irgendeine elektrotechnische Fehlschaltung das Panorama aktiviert?
Tatsächlich waren die Luminex-Schirme zum Leben erwacht. Aber die Szenerie war nicht Paris. Es war nicht etwas, das sie kannte. Es war überhaupt kein Blick auf etwas hinunter. Es war eine Szene in Augenhöhe, und es bewegte sich, als ginge sie hindurch.
Sie war so überrascht, daß sie überhaupt nicht daran dachte, Paul zu wecken, der ruhig atmend neben ihr schlief.
Behutsam löste sie sich aus dem Arm ihres Mannes und richtete sich auf. Das Licht schien heller zu werden, aber vielleicht gewöhnten sich auch nur ihre Augen daran. Auf jeden Fall konnte sie jetzt ziemlich deutlich sehen. Sie schien sich durch eine lichte Baumgruppe zu bewegen. Sofort dachte sie an den Nachmittag am C&O-Kanal. In ihrer Nase kribbelte es. Der Geruch war der gleiche wie der in dem verlassenen Schleusenhaus am Kanal: frisch, grün, würzig, aromatisch. Dort war der Duft von den Weidenblättern gekommen. Aber nein – dies war nicht der Kanal. Die Bäume waren die gleichen. Es waren Weiden. Aber der Ort war ein anderer – ein ganz anderer. Weitab zur Rechten ragte eine sonderbare, skelettartige Struktur empor. Eine Konstruktion aus Stahlträgern. Eine Brücke? Höchstwahrscheinlich. Und jetzt hatte sie den Rand des kleinen Hains erreicht und war stehengeblieben, als wolle sie lauschen. Es war Abend, und sie hörte das Gurgeln von fließendem Wasser. Anscheinend spannte sich die Brücke über einen kleinen Fluß oder einen Bach. Sie hörte das Quaken von Fröschen, und die Weidenblätter hinter ihr raschelten in einer leichten Brise. Irgendwo vor ihr erklang in melancholischer Wiederholung der Lockruf eines Vogels, eines Ziegenmelkers.
Ein ferner Teil ihres Unterbewußtseins meldete sich zu Wort: Keine Klang- oder Geruchserlebnisse bei diesem Luminex. Nicht dazu programmiert. Sie schüttelte den Hinweis ab und ging weiter.
Die gesamte Szene gehörte ihr, und sie konnte sich frei darin bewegen. Sie stieg die kleine Böschung zu den Bahngleisen hinauf, drehte sich um und schaute hinaus über die Brücke. Und dort, am anderen Ende, sah sie die Gestalt, die zu ihr her überschaute. Es war eine leuchtende Erscheinung, aber sie erkannte einen Körper mit Armen, Beinen und einem Kopf.
Mary war nackt und kam aus dem Hochzeitsbett, aber sie wußte, daß ihre Nacktheit bedeutungslos war. Es war, als sei sie eine Nymphe, eine Najade in einer Hirtenszene zusammen mit einem griechischen Gott.
Und jetzt konnte sie auch die Gesichtszüge erkennen. Das Gesicht hatte große Ähnlichkeit mit dem von Dr. Serane, aber es war nicht Serane. Das zurückgekämmte, in der Mitte gescheitelte Haar war das gleiche, die Augen und die Wangen waren die gleichen, und das Lächeln war das gleiche. Aber dieses Gesicht war jünger, schmaler, und die Augen darin brannten.
Sie hatte es noch nie zuvor gesehen, aber sie erkannte es.
Paul war inzwischen aufgewacht, und er sah alles kaum weniger verblüfft mit an. Aber Mary hatte ihn völlig vergessen. Für sie existierte nur die seltsame,
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