Der Katalysator
verzauberte Welt der Brücke.
Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Jetzt, ohne es zu wissen, stand die Priesterin vor der Brücke, und auf der anderen Seite wartete der Prophet. Sie wußte nicht einmal, daß sie die Priesterin war oder daß dies der letzte Akt von Song war und daß nun bald der Augenblick kommen würde, da sie ihre Bitte aussprechen müßte.
Sollte er sie wecken? Aber das war ein alberner Gedanke. Sie war wach – genauso wach wie er selbst. Aber wußte sie, um was sie bitten sollte? Und was war hier überhaupt das Richtige? Gesundheit für sie? Für ihr Kind? Er wußte es auch nicht. Er fühlte sich absolut hilflos.
In weiter Ferne glaubte er Musik zu hören, eine einfache, nostalgische Flötenmelodie. Er schaute Mary aus dem Augenwinkel an. Er wußte, daß sie es ebenfalls gehört hatte. Ihr Einsatz.
Sie schaute über die Brücke zu diesem sonderbaren Gesicht und murmelte in singendem Tonfall: „Leb wohl … ruhe, träume … du mein geliebter Gott …“ Sie hatte die Abschiedsworte Brunhildes an den verschwindenden Wotan und Solvejgs an den sterbenden Peer Gynt miteinander kombiniert.
Jesus! dachte Paul. Ihr Augenblick ist gekommen und gegangen, und sie hat um nichts gebeten!
Jetzt tat der Besucher etwas Seltsames. Er kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich vor ihr. Und sie wußte, was dies bedeutete. Es war der respektvolle Gruß der Männer alter Kulturen an eine Frau, die ein Kind trug, die Andeutung einer Sitte aus den Kindheitstagen der Menschheit, als man mit Staunen und Ehrfurcht sah, wie eine Frau neues Leben erschuf.
Sie hob den Arm in einer Abschiedsgeste.
In diesem kurzen Augenblick schien ein Licht von der Gestalt auszugehen; es strömte über die Brücke hinweg zu ihr herüber und umspülte ihr Gesicht und ihren Körper. Dann erlosch es, und die Gestalt war verschwunden.
Die Luminex-Schirme wurden dunkel, und alle Geräusche verstummten.
Sie ließ den Arm sinken, aber eine Weile blieb sie noch so sitzen und starrte in den stillen Raum.
Etwas berührte sie. Sie fuhr zusammen und entspannte sich gleich wieder. Es war Paul. Er hatte die Hand auf ihren nackten Rücken gelegt.
„Ja“, sagte er leise, „das war Billy. Es war Black Bridge, unser Lieblingsplatz damals in Damascus.“
Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.
Er verstand nicht, was sie damit meinte. War etwas mit dem Baby?
„Mein Geburtsfleck“, sagte sie ruhig. „Er ist weg. Und ich habe eine Art Nabel. Ich bin ein richtiger, lebendiger Mensch.“
Er betastete ihren Leib, zuerst ungläubig und dann fassungslos. Es stimmte. Billy hatte es bewirkt – irgendwie. Und natürlich war das Baby wohlauf, obwohl sie um all dies nicht gebeten hatte. Vielleicht war dies das Geheimnis von Song. Erbitte nichts, und du wirst alles bekommen. War das die Antwort? Er wußte es nicht. Was hier mit Mary geschehen war, entzog sich logischen Schlußfolgerungen. Vielleicht würden sie niemals alle Antworten erfahren.
Aber eines blieb trotz allem noch zu tun. „Ich habe die Katalysator-Hülse mitgebracht. Sie enthält seine Asche, weißt du. Wir müssen noch einmal zu dieser Brücke. Ich werde den Katalysator in den Bach schütten. Er würde es so haben wollen.“
„Ja. Das würde er wollen.“ Sie überlegte. „Erzähl mir von Damascus.“
„Es ist ziemlich eigenartig dort. Keine U-Bahn. Keine Straßentunnels. Es regnet fast nie. Es ist dauernd windig. Im Sommer ist es zu heiß, im Winter zu kalt. Zweihundert Kirchen. Aber man kann seinen Electric nachts auf der Straße stehenlassen, ohne ihn abzuschließen. Wenn man sich in beliebiger Richtung fünf Meilen vom Rathaus entfernt, steht man in einer Wildnis von Buscheichen und Kornblumen. Der Himmel ist so hell, daß man fast
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