Der Katalysator
war schon weit nach fünf Uhr und längst Feierabend), kehrte er in das Loch zurück und setzte sich dort an Seranes alten Schreibtisch, auf dem sich jetzt Bücher und Akten stapelten. Müßig zog er die unterste Schublade auf und nahm Seranes alten Aschenbecher heraus, einen Miniatur-Aschkessel aus Messing, in den der Name der Firma eingraviert war. Die Vertriebsabteilung hatte diese Dinger irgendwann einmal guten Kunden zu Weihnachten geschenkt. Der kleine Kessel war halb voll mit Asche. Er lächelte bitter. Das Gefäß war eine Zusammenfassung seines Jahres hier und eine Verhöhnung zugleich. Er stellte es zurück in die Schublade.
Gut oder schlecht, es war vorüber. Alles war getan, alles war erledigt. Vielleicht sollte er sich deprimiert fühlen, aber statt dessen fühlte er sich einer Last enthoben, er fühlte sich frei.
Er dachte an Mary und an einen Vers von Marlowe: Willst du, mein Lieb, dich an mich binden / so solln wir alle Freuden finden …
Erdrückende Gewichte hoben sich von seinen Gedanken und von seinem Herzen. Er atmete tief. Jetzt würde ein neues Leben beginnen. Es gab keinen Grund, hier noch länger herumzulungern. Er würde keine Sekunde mehr vergeuden.
Er erhob sich von dem alten Schreibtisch, verließ das kleine Büro und fuhr mit dem Aufzug zum Parkplatz hinunter. Während er vom Platz fuhr, warf er einen Blick zurück auf den blaßgelben Ziegelsteinhügel, der Upper Ashkettles war. Fast ein Jahr hatte er hier verbracht. Hier war er erwachsen geworden. Hier erst hatte er Billy verstanden, ihn und das, was er für ihn empfand. Jetzt war er frei, um an sich selbst zu denken und um seine eigene Zukunft zu gestalten. Er hatte wunderbare Freunde hier gefunden – und auch Feinde. Er wußte, daß er in all den Jahren, die ihm noch blieben, niemanden mehr finden würde, der diesen Leuten gleichkäme.
Und niemals, niemals wieder würde er eine Chemikalie wie Trialin entdecken. Trialin … die Wunderchemikalie … und ein Knäuel von Widersprüchen. War es ein lebloses Atomarrangement aus C, H und N, oder war es etwas Lebendiges, bösartig und gutartig zugleich? Es verwandelte alles, was es berührte: Die Lebenden. Die Toten. Nicht einmal Computer waren sicher. Von all denen, die es beeinflußt hatte, würde Mukerjee es wahrscheinlich am besten verstehen, denn es enthielt den gesamten Kanon der indischen Götter. Es war Schiwa, der Zerstörer, denn es hatte Viturate getötet und in gewisser Weise auch Uriah. Zweifellos hatte es auch Seranes Gruppe vernichtet. Zugleich aber war es Wischnu, der Be wahr er, denn es hatte Kussman gerettet – sogar gegen seinen Willen –, es hatte Abrams gerettet und Tausende von Menschen in Indien, und in den nächsten Jahren würde es nicht aufhören, Leben zu retten. Schließlich war es Brahma, der Schöpfer, denn es war unmittelbar verantwortlich für die seltsame Computer-Reinkarnation Billys in jener Nacht des neunzehnten Mai.
Er dachte an die Zukunft der Firma. In ihrer langen Geschichte hatte sie Schlimmeres als Kussman überlebt. Kussman war höchstens ein Mückenstich. Und welches Schicksal erwartete den Labordirektor? Paul verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Kussmans Loyalität und Ergebenheit würden vermutlich Früchte tragen, und der Mann würde schließlich in die höchsten Etagen des Unternehmens aufsteigen. Pinkster und Humbert würde er wahrscheinlich mitnehmen, und Oldham würde man die Leitung des Labors übertragen. (Und den Namen des Labors würde man vielleicht in „Kussman-Laboratorium“ abändern.)
Wie sollte es anders sein? Aber im Grunde war es nicht wichtig. Er wünschte ihnen alles Gute.
Aber für ihn war es Zeit zu gehen.
Er fuhr zur Rhoda
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