Der Kaufmann von Lippstadt
Schwein! Wie sind Sie denn überhaupt zu diesem Haus gekommen? Das ging bestimmt nicht mit rechten Dingen zu!«, empört er sich.
»Lieber Herr Overkamp«, beginnt Engerling belehrend. »Ich habe das Haus von meinem Vater geerbt. Und der hat es von seinem Vater. Alles ganz legal, Overkamp.« Engerling grinst, holt tief Luft und will anscheinend noch mehr sagen.
»Komm, Wolfgang, lass es gut sein«, versucht Barbara Engerling ihren Mann zu beschwichtigen und fasst ihn am Arm.
»Misch dich nicht ein!«, ranzt Engerling seine Frau an. »Dieser aufgeblasene Möchtegern, der … der … Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Was bilden Sie sich eigentlich ein? Lassen Sie mich in Frieden. Und mein Haus. Sagen Sie nichts über mein Haus. Verstehen Sie? Mein Haus!«
Barbara Engerling nimmt ihren Mann an der Hand und zieht ihn aus dem Zelt. Er schwankt leicht. » Mein Haus!«, schreit er immer noch. »Das ist mein Haus!«
»Was ist das denn für ein Typ? Lass mich raten. Das ist der, den du nach dem WM-Spiel getroffen hast. Der in Overkamps Haus lebt?«
»Hm. Ja. Der tickt doch nicht richtig. Schau mal, wie wir aussehen. Voller Rotweinflecken. Wir sollten die Sachen zu Heckmanns in die Reinigung bringen. Und die Rechnung zu dem da. Dem Engerling«, ärgert sich Oliver.
»Ach lass, es wird schon gehen. Wenn du dem Engerling jetzt noch mit einer Rechnung kommst, dann dreht der doch ganz ab. Scheint ein Choleriker zu sein. Und gut getankt hat er auch«, beschwichtigt Annika. »Komm, wir müssen noch unser Geschirr wegbringen. Da ist Pfand drauf, mein lieber Herr Overkamp. Wieso sagt der eigentlich Overkamp zu dir?«
»Ich erinnere mich dunkel, dass ich zu ihm sagte, der Overkamp sei ein Freund. Oder Bekannter. Vielleicht habe ich Verwandter gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Das war ohnehin ein saublödes Gespräch.«
»Nun lass mal die armen Schweine in Ruhe«, sagt Annika lachend und denkt an die Holzschweine.
An der Rückgabestelle für das Geschirr treffen sie Andy aus der Anzeigenredaktion der LTZ.
»Mensch, Oliver, was hast du denn mit dem Engerling zu tun?«, erkundigt sich Andy, der das Zusammentreffen beobachtet hat.
»Eigentlich gar nichts. Ich habe ihn mal auf sein Haus angesprochen – das ist Wochen her. Und jetzt eben ist er in Annika reingelaufen und hat uns beschüttet. Hier, siehst du.« Oliver zeigt auf die Flecken auf seiner Kleidung. »Woher kennst du den Engerling denn?«, erkundigt sich Oliver.
»Der ist ganz bekannt in Lippstadt. Früher in den 1980er und 90er Jahren hat er immer in Spielhallen rumgehangen. Der ist so ’n Zocker, weißt du. Dann erzählte man über ihn, er spiele gerne in Hinterzimmern, dann hieß es wieder, er spiele in Bad Oeynhausen Blackjack. Ich weiß noch, einmal saßen wir mit ein paar Leuten in der Kneipe am Güterbahnhof, da kam der Engerling rein, ganz chic im Anzug, und erzählte allen, er habe heute auf Super-Jack gesetzt, und die Bank habe Herz vorgelegt. Sein Einsatz sei ihm 300-fach ausgezahlt worden. Sofort zückte er sein Portemonnaie und gab für alle – echt für alle, das musst du dir mal vorstellen! – ein Bier aus.«
»Aha«, sagt Oliver.
»Man sah ihn immer öfter betrunken in Kneipen. Dann erzählte mir jemand, er, also der Engerling, sei arbeitslos und pleite, alles verspielt. Aber man muss ja vorsichtig sein, was man so glaubt. Die Leute erzählen viel. Letzten Mittwoch allerdings hatten wir in der LTZ eine amtliche Bekanntmachung: Zwangsversteigerung eines denkmalgeschützten Wohn- und Geschäftshauses in Lippstadt, Kirchgasse 2.« Andy macht eine Pause, als erwarte er Beifall für seine Verkündung, doch als Oliver nicht reagiert, fährt Andy fort: »Kirchgasse 2, das ist doch Engerlings Haus«, erklärt er. »Das wird versteigert. Er ist anscheinend wirklich pleite! Was sagst du jetzt?«
»Ach …, äh … also…«, stammelt Oliver. »Das ist ja was …«
2ter Junij 1765
Alle Glocken Lippstadts läuten, denn es ist kein gewöhnlicher Sonntag. Heute genau vor einem Jahr geschah die große Explosion, und zwei Burschen hatten ihr Leben gelassen. Die entstandenen Schäden waren längst beseitigt, die Dächer wieder dicht, die Munition war fortgeschafft und der Festungsgürtel verschwand nach und nach. In Lippstadt war seit Langem der Alltag zurückgekehrt.
In den Messen aller Lippstädter Kirchen wird heute der beiden Hirten gedacht und Gott gedankt, dass nicht noch größeres Unheil über die Stadt hereingebrochen ist. Man ist froh,
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