Der Keim des Verderbens
Zehn-Cent-Stück. Es hat zwei unterschiedliche Seiten.«
Er machte mir Platz, und ich erkannte Fasern, die an blonde Haare erinnerten, mit rosa und grünen Einsprengseln am Schaft.
»Sieht ganz nach Polyester aus«, erklärte Koss. »Die Einsprengsel sind Mattierungsmittel, die bei der Herstellung verwendet werden, damit das Material nicht glänzt. Ich glaube, außerdem ist noch etwas Rayon beigemischt. Aus all dem würde ich normalerweise schließen, daß es sich hier um einen ganz gewöhnlichen Stoff handelt, den man für fast alles verwenden kann, von der Bluse bis zur Tagesdecke. Aber so einfach ist das nicht.«
Er öffnete eine Flasche mit einem flüssigen Lösungsmittel, hob mit einer Pinzette das Deckgläschen hoch und drehte das Fragment behutsam um. Er tropfte Xylol auf das Präparat, deckte es wieder zu und bedeutete mir, ich solle näher kommen.
»Was sehen Sie?« fragte er. Er war stolz auf sich.
»Etwas Gräuliches, Festes. Jedenfalls ist es nicht das gleiche Material wie auf der andere Seite.« Ich sah ihn überrascht an.
»Der Stoff ist also beschichtet?«
»Mit irgendeinem Thermoplast. Wahrscheinlich Polyethylen-Terephthalat.«
»Und wofür wird das verwendet?« wollte ich wissen.
»Vor allem für Softdrink-Flaschen, Filme und Klarsichtpackungen.«
Ich starrte ihn verblüfft an. Mir war schleierhaft, was solche Produkte mit unserem Fall zu tun haben sollten.
»Was sonst noch?« fragte ich.
Er dachte nach. »Packbänder. Manche dieser Produkte, Flaschen zum Beispiel, können recycelt und dann wieder zu Teppichfasern, Füllstoffen oder Faserplatten verarbeitet werden.
Zu allem möglichen.«
»Aber nicht zu Kleiderstoffen.«
Er schüttelte den Kopf und sagte mit Bestimmtheit: »Auf keinen Fall. Der Stoff, von dem wir hier sprechen, ist eine recht ordinäre, grobe Polyestermischung mit einer Beschichtung aus irgendeinem Kunststoff. Von einem derartigen Kleiderstoff habe ich noch nie etwas gehört. Außerdem ist er offenbar mit Farbe durchtränkt.«
»Danke, Aaron«, sagte ich. »Das wirft ein ganz neues Licht auf die Sache.«
Als ich wieder in mein Büro kam, saß zu meiner Überraschung und Verärgerung Percy Ring auf einem Stuhl vor meinem Schreibtisch und blätterte in einem Notizbuch.
»Ich musste wegen eines Interviews mit Channel Twelve nach Richmond«, sagte er unschuldsvoll, »und da dachte ich, dann kann ich Ihnen eigentlich auch gleich einen Besuch abstatten. Mit Ihnen wollen die übrigens auch reden.« Er lächelte.
Ich antwortete nicht. Statt dessen setzte ich mich auf meinen Stuhl und schwieg vielsagend.
»Ich habe mir gedacht, daß Sie denen kein Interview geben würden. Das habe ich ihnen auch gesagt«, fuhr er in seiner ungezwungenen, leutseligen Art fort.
»Und was genau haben Sie denen diesmal erzählt?« Mein Ton war alles andere als freundlich.
»Wie bitte?« Sein Lächeln erstarb, und sein Blick verhärtete sich. »Was soll das denn heißen?«
»Sie sind der Ermittlungsbeamte. Finden Sie es heraus.«
Mein Blick war ebenso hart wie seiner.
Er zuckte mit den Schultern. »Das Übliche. Nur das Wesentlichste über den Fall und die Parallelen zu den anderen.«
»Investigator Ring, lassen Sie mich zum wiederholten Male etwas klarstellen«, sagte ich, ohne aus der Verachtung, die ich für ihn empfand, einen Hehl zu machen. »Es steht keineswegs fest, daß dieser Fall etwas mit den anderen zu tun hat. Und wir sollten den Medien gegenüber nichts dazu verlauten lassen.«
»Tja, da haben wir offenbar unterschiedliche Standpunkte, Dr. Scarpetta.«
In seinem adretten Outfit - dunkler Anzug, Paisley-Hosenträger und Krawatte - wirkte er bemerkenswert vertrauenerweckend. Ich musste daran denken, was Wesley über Rings Ambitionen und Beziehungen gesagt hatte, und bei dem Gedanken, daß dieser selbstgefällige Schwachkopf eines Tages an der Spitze der Polizei von Virginia stehen oder in den Kongreß gewählt werden könnte, drehte sich mir der Magen um.
»Ich finde, die Öffentlichkeit hat ein Recht, zu erfahren, daß ein Irrer in ihrer Mitte weilt«, sagte er.
»Und das haben Sie auch im Fernsehen gesagt.« Ich kochte vor Wut, »Daß ein Irrer unter uns weilt.«
»An meine genauen Worte kann ich mich nicht mehr erinnern. Der eigentlich Grund, weshalb ich hergekommen bin, ist, daß ich gern wüßte, wann ich eine Kopie des Autopsieberichts bekomme.«
»Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.«
»Ich brauche ihn so bald wie möglich.« Er sah mir in die Augen.
Weitere Kostenlose Bücher