Der Keim des Verderbens
werden wollen, und sie war bereits eine der besten, die das FBI je gehabt hatte. Es war einfach unfair. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, außer daß sie im zarten Alter von neunzehn Jahren den Fehler begangen hatte, auf eine äußerst bösartige Person hereinzufallen. Ich wollte endlich dieses Zimmer verlassen und zu ihr fahren. Ich wollte nach Hause. Gerade als ich vorhatte, nach der Schwester zu klingeln, kam eine herein. Sie war neu.
»Meinen Sie, ich könnte einen neuen OP-Anzug bekommen?« fragte ich sie.
»Ich kann Ihnen einen Kittel bringen.«
»Einen Anzug, bitte.«
»Naja, das ist eigentlich nicht üblich.« Sie runzelte die Stirn.
»Ich weiß.«
Ich stöpselte den Computer in die Telefonbuchse und schaltete ihn mit einem Tastendruck ein.
»Wenn die diese Haushaltssperre nicht bald aufheben, gibt es bald niemanden mehr, der die Kittel und all das sterilisieren kann.« Die Schwester in dem blauen Schutzanzug plapperte in einem fort, während sie die Bettdecke über meinen Beinen zurechtzog. »Der Präsident hat heute morgen in den Nachrichten gesagt, daß es bald kein Essen auf Rädern mehr geben wird. Die Umweltschutzbehörde kümmert sich nicht mehr um die Giftmülldeponien, vielleicht machen sogar die Bundesgerichte dicht, und an Führungen durchs Weiße Haus ist erst recht nicht mehr zu denken. Sind Sie bereit fürs Mittagessen?«
»Danke«, sagte ich, während sie mit ihrer Litanei schlechter Neuigkeiten fortfuhr.
»Ganz zu schweigen von der staatlichen Gesundheitsfürsorge, der Luftverschmutzung, der winterlichen Grippewelle und den Trinkwasservorräten, die auf parasitäre Sporen untersucht werden müssen. Sie können von Glück sagen, daß Sie jetzt hier sind. Nächste Woche haben wir vielleicht gar nicht mehr geöffnet.«
Ich hatte keine Lust, auch nur einen Gedanken an den Haushaltsstreit zu verschwenden. Auch so schon ging ein Großteil meiner Zeit für Budgetkämpfe drauf: Ich feilschte mit Ministerialdirektoren und nahm vor der General Assembly die Gesetzgeber unter Beschuß. Ich fürchtete, daß die Krise von der Bundesebene auf die Einzelstaaten übergreifen könnte.
Dann würde mein neues Dienstgebäude nie fertig, und meine ohnehin dürftigen Mittel würden gnadenlos noch weiter beschnitten. Die Toten hatten keine Lobby. Für meine Patienten existierte keine Partei, und sie gingen nicht zur Wahl.
»Sie können sich was aussuchen«, sagte sie.
»Entschuldigung.« Ich schenkte ihr wieder meine Aufmerksamkeit.
»Huhn oder Schinken.«
»Huhn.« Ich hatte nicht den geringsten Hunger. »Und heißen Tee.«
Sie stöpselte ihren Luftschlauch aus und überließ mich der Stille. Ich stellte den Laptop aufs Tablett und loggte mich bei America Online ein. Zuerst sah ich in meine Mailbox. Es waren jede Menge Nachrichten darin, aber keine von deadoc, die die Squad 19 nicht bereits geöffnet hatte. Ich navigierte mich mit Hilfe der Menüs zu den Chat-Räumen, rief die Liste der Mitgliedsräume auf und schaute nach, wie viele Leute sich in dem Chat-Raum mit dem Namen »M.E.« befanden.
Niemand war da, also begab ich mich als einzige hinein, lehnte mich in meine Kissen zurück und starrte auf den leeren Bildschirm mit der Symbolleiste am oberen Rand. Es gab niemanden, mit dem ich mich unterhalten konnte, und mir wurde bewußt, wie albern das auf deadoc wirken mußte, falls er irgendwie zuschaute. War es nicht zu offensichtlich, wenn ich mich allein in dem Raum aufhielt? Würde das nicht den Eindruck machen, als wartete ich auf jemanden? Kaum hatte ich das gedacht, erschien ein Satz auf meinem Bildschirm, und ich begann zu antworten.
QUINCY: Hi. Worüber wollen wir heute reden?
SCARPETTA: Die Haushaltssperre. In welcher Weise sind Sie davon betroffen?
QUINCY: Meine Dienststelle befindet sich in Washington. Ein Alptraum.
SCARPETTA: Sind Sie Gerichtsmediziner?
QUINCY: Ja. Wir sind uns schon bei Konferenzen begegnet. Wir haben ein paar gemeinsame Bekannte. Heute ist hier ja nicht viel los, aber warten wir's ab: Es kann nur noch besser werden.
Da wußte ich, daß Quincy einer der Undercover-Agenten von der Squad 19 war. Wir setzten unsere Unterhaltung fort, bis das Mittagessen kam, und nahmen sie danach für fast eine Stunde wieder auf. Quincy und ich plauderten über unsere Probleme, fragten nach Lösungen und taten alles Erdenkliche, um unsere Sitzung wie einen normalen Austausch zwischen Gerichtsmedizinern oder Berufsverwandten wirken zu lassen. Doch deadoc biß nicht
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