Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
vermisst?«
»Nein.«
Sie sah ihn fragend an, als sie den Krug an die Lippen führte, und wunderte sich über den Anflug von Bedauern, den sie in seiner kühlen Art wahrgenommen zu haben glaubte. »Ihr seid in der ganzen langen Zeit nie zurückgekehrt?«
Die Schatten des Feuers tanzten auf seiner Wange, als er eine abfällige Kopfbewegung machte. »Mein Vater und ich, wir kamen nicht gut miteinander aus.«
»Warum nicht?«
»Vermutlich weil ich versucht habe, ihn umzubringen.«
Ariana hielt inne, unsicher, was sie von dieser Bemerkung halten sollte. »Ihr scherzt.«
Doch in seinen Augen lag kein humorvolles Glitzern, sein nüchterner Tonfall hatte nichts Unbeschwertes, und selbst die Spur von Bedauern, die sie noch Augenblicke zuvor geglaubt hatte, entdeckt zu haben, war verflogen. Offen und freimütig schaute Braedon sie an, und Ariana konnte sich einer schleichenden Furcht nicht erwehren. Hatte er wirklich seinen eigenen Vater erschlagen wollen? Es war ihr unbegreiflich, wie man sich zu einer derartigen Tat hinreißen lassen konnte.
Vielleicht, so riet ihr eine warnende innere Stimme, war es besser, wenn sie möglichst wenig über Braedon und die Schatten seiner Vergangenheit wusste, die ihn verfolgten. Sie hatte kein Verlangen, die Tiefen seines Hasses – oder seines Irrsinns – auszuloten. Trotzdem berührte sie die Trostlosigkeit seines Blicks, und sie fragte sich, ob jemals ein anderer Mensch versucht hatte, für ihn da zu sein – und ob er in einem verletzbaren Winkel seines Herzens vielleicht nicht doch einen anderen Menschen brauchte.
Behutsam setzte sie den Krug ab. Sie konnte sich von Braedons kaltem, unerschrockenem Blick einfach nicht lösen. »Was ist zwischen Euch und Eurem Vater passiert, Braedon?«
Wieder biss er ein Stück von der Pastete ab, kaute langsam und bedächtig und nahm dann einen Schluck von dem Ale. »Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er die alten Erinnerungen nicht an sich heranlassen. »Das ist lange her und hat keine Bedeutung mehr.«
Ariana betrachtete ihn nachsichtig und akzeptierte, dass er die unliebsamen Erinnerungen nicht mit ihr teilen wollte. Doch die unbeantwortete Frage ließ ihr keine Ruhe. Genau wie Regeln befolgt werden mussten, so wollten Rätsel gelöst werden. Und der Mann, der ihr gegenübersaß, barg zu viele Geheimnisse, die sie bereits in ihren Bann gezogen hatten. »Habt Ihr dadurch die Narbe davongetragen?«, wollte sie vorsichtig wissen.
Ihre Frage schien ihn zu überraschen, so als habe er die verheilte Verletzung vergessen, die eine Hälfte seines Gesichts entstellte. Mit einer Hand strich er sich über die silbrige Haut. »Das hier«, sagte er scheinbar unbekümmert, »hat nichts mit meinem Vater zu tun, Mylady. Die Narbe habe ich mir anderweitig zugezogen.«
»Wie kam es dazu?«
»Ich habe eine Situation falsch eingeschätzt.« Er sah sie unverwandt an und streckte dann die Hand nach dem Krug aus. »Wenn ich mich recht erinnere, Madame, dann bin ich derjenige, der hier die Fragen stellt.«
Ariana zuckte unbeteiligt die Schultern. »Und ich habe sie beantwortet.«
»Ah, ganz recht«, sagte er gedehnt und musterte sie mit skeptischer Miene. »Ihr habt mir eine Geschichte aufgetischt von einem Bruder, der die Eigenschaften eines Heiligen besitzt und den Ihr kaum kennt, da er den Großteil Eures Lebens nicht auf Clairmont war. Und dieser Bruder hat angeblich nach Euch geschickt, und Ihr seid seiner Bitte gleich nachgekommen, da Ihr befürchtet, er könne womöglich an einer Erkältung oder den Folgen falscher Ernährung leiden.« Braedon lehnte sich zurück und stützte sich auf einem Ellenbogen ab. »Euer Begleiter aus Clairmont muss ja das Abbild von Verständnis gewesen sein, dass er sogar bereit gewesen ist, für Euer törichtes Vorhaben sein Leben zu geben.«
Ariana starrte ihn hilflos an. Sie hatte sich in einer Schlinge verfangen, die sie selbst ausgelegt hatte. Ihr Herz krampfte sich schmerzvoll zusammen, als sie an den treuen James dachte. Sie gab sich die Schuld für den Tod des Ritters und kämpfte gegen den aufkeimenden Kummer an. Nie hätte sie zulassen dürfen, dass er sie nach London begleitete.
Obwohl sie die Wahrheit nicht zu sehr strapaziert hatte, hatte Braedon ihr kein einziges Wort geglaubt – was sie nicht sonderlich überraschte. Schließlich hatte er ihre Glaubwürdigkeit schon in dem Moment hinterfragt, als das Schicksal sie auf den Docks in Queenhithe zusammengeführt
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