Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
den Pranken eines Bären.
Der Bär allerdings war ein kräftiger Soldat gewesen, einer von drei Söldnern, die nach Calais entsandt worden waren, um das Kommen und Gehen im Hafen zu beobachten. Alle hatten bei der Aufgabe jämmerlich versagt. Und jetzt war auch noch dieser letzte Soldat tot und lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden der Werkstatt, am Rücken die tödliche Wunde eines Dolchs.
Sein Hauptmann, der große, ganz in Rot und Schwarz gekleidete Ritter, der nun vor dem reglosen Körper stand, verschwendete keinen Gedanken an die Ermordung des Mannes. Er ging zum einzigen Fenster in dem kleinen Raum und passte auf, dass er nicht in die Blutlache trat. Mit einer in schwarzes Leder gehüllten Hand wischte er die Eisblumen von dem geschliffenen Fensterglas und ließ den Blick über den stillen Hafen gleiten.
»Hat irgendjemand das Mädchen gesehen?«, wandte er sich an einen anderen Ritter, der hinter ihm stand.
Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass der Feigling sich beinahe vor Furcht in die Hosen machte. Und dazu hatte er auch allen Grund. Der Narr und sein Begleiter hatten ihre Pferde unbeaufsichtigt zurückgelassen, während sie eine Schenke durchsucht hatten. Ein schwerwiegender Fehler, denn beide Tiere waren ihnen gestohlen worden. Nun stand dieser Dummkopf hier, um weitere Befehle entgegenzunehmen, während sein Begleiter es für klüger gehalten hatte, keine Rechenschaft abzulegen, und den Pferdedieben offenbar zu Fuß gefolgt war.
Sosehr er auch das Versagen seiner Männer verabscheute, begriff der Hauptmann doch, dass es ihm nicht zustand, die Strafe zu vergeben. Das überließ er einer höheren Macht. Warum sollte er auch kostbare Zeit damit vergeuden, den Jagdhund zu züchtigen, wenn der Hase womöglich noch ganz in der Nähe ängstlich ausharrte?
»Das Mädchen«, wiederholte er, als nicht zu übersehen war, dass die Angst den Soldaten auffraß. »Hat einer von Euch bei der Durchsuchung die junge Frau oder den Mann gesehen, der sie begleitet?«
»N…nein, Sir. Die beiden waren schon aus ihrer Kammer geflohen, als der Wirt uns hereinließ.«
Und sind zweifellos auf den Pferden entkommen, die man ihnen für ihre Flucht förmlich aufgedrängt hat, dachte der Ritter mit grimmiger Miene. In diesem Fall könnten sie bereits Meilen von Calais entfernt sein. Aber sobald sie eines der Küstendörfer erreichten, würde er davon erfahren. Er hatte vorgesorgt und Wachen in allen Häfen entlang des Ärmelkanals postiert. Doch sein Küstenschutz brachte ihm im Augenblick wenig. Er vermutete, dass seine Beute ins Landesinnere geflohen war. Falls die junge Frau beabsichtigte, auf direktem Wege nach Rouen zu gelangen – vorausgesetzt, sie fand sich überhaupt in Frankreich zurecht – , so könnte sie ihr Ziel schon in wenigen Tagen erreicht haben. Das ließ ihm wenig Zeit.
»Der Wirt hat uns die beiden beschrieben«, sagte der Soldat, sichtlich bemüht, das quälende Schweigen zu unterbrechen. »Die junge Frau ist hübsch und von kleiner Statur – eine Schönheit mit blondem Haar, so sagt der Wirt.«
Der Anführer stieß ein tiefes Grunzen aus. »Die Beschreibung wird uns gewiss weiterbringen«, spottete er. Er spürte eine Berührung an seiner Wade. Eine dicke gescheckte Katze strich ihm um die Beine. »Und der Mann?«, fragte er eher beiläufig, da er sich ohnehin keine wertvolle Information von dem Soldaten erhoffte. »Ich vermute, wir haben kaum einen Anhaltspunkt, was sein Äußeres betrifft?«
»Doch, Sir, den Mann müssten wir leichter ausfindig machen können. Wie ich erfuhr, ziert eine Narbe sein Gesicht. Eine alte Wunde, die sich über seine ganze Wange zieht.«
Der Ritter hob ruckartig den Kopf, ließ sich seine Überraschung aber nicht weiter anmerken, als er sich schließlich zu seinem Untergebenen umdrehte. »Auf welcher Seite?«
»Sir?«
»Des Gesichts, Mann«, grollte er. Im Grunde ahnte er die Antwort bereits und wollte nur eine Bestätigung. »Welche Seite seines Gesichts ist verunstaltet?«
Der Soldat runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Die linke Seite, glaube ich.« Er nickte eifrig. »Ja, der Wirt sagte, die linke Seite seines Gesichts sei von der grässlichen Narbe gezeichnet.«
Le Chasseur.
Augenblicklich schoss ihm der Name durch den Kopf. Konnte es wahr sein? War das nur ein Zufall, dass dieser vernarbte Kämpfer sich eingemischt hatte, oder hatte der berühmte Jäger seine Lektion beim ersten Mal nicht gelernt – wie lange mochte es her sein? Ein Jahr?
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