Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
»In unserer kleinen Kapelle gibt es nicht viele Gegenstände von Wert, abgesehen von einem goldenen Kreuz, das auf dem Altar stand. Jetzt ist es fort, bedauerlicherweise.«
Kenrick betrachtete den Geistlichen und das kleine Gotteshaus, das sich in einem beklagenswerten Zustand befand. »Ich würde mich gerne ein wenig umschauen.«
»Wie Ihr wünscht, Mylord.« Der Priester deutete auf den eingefriedeten Kirchbezirk und ging voraus. »Wenn Ihr mögt, kann ich Euch zeigen, wo das Kreuz in der Kapelle stand.«
Kenrick streifte seine Rüstungshandschuhe ab und stieg vom Pferd. Dann hielt er inne, drehte sich zu seinen Männern um und gab Anweisungen. »Sechs Mann reiten aus und durchkämmen die umliegende Gegend. Erstattet Bericht, sobald ihr etwas Auffälliges seht.«
Das halbe Dutzend Ritter sprengte davon, um den Auftrag auszuführen.
Nun sprang auch Braedon von seinem Pferd; seine Miene war düster, als er zu Kenrick trat. »Der Überfall trägt die Handschrift von le Nantres.«
»Ich denke, es war niemand anders als de Mortaine selbst.«
Braedon verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Silas macht sich nicht mit kleinen Überfällen und Diebstahl die Hände schmutzig. Draec hingegen kennt keine Skrupel. Er ist sich für nichts zu schade.«
Er wird es besser als jeder andere wissen, dachte Kenrick, als er das hasserfüllte Glimmen in den Augen seines Schwagers sah. Einst, vor mehr als sieben Jahren, hatte man die Namen Braedon le Chasseur und Draec le Nantres stets in einem Atemzug genannt. Draec war der engste Vertraute des Kriegers gewesen, der allen immer nur als der Jäger bekannt war – bis die Gier nach dem Drachenkelch in einen Verrat mündete, in dessen Verlauf viel Blut vergossen worden war und treue Gefährten von le Chasseur ihr Leben lassen mussten. Braedon selbst hatte dem Gemetzel damals gerade noch entkommen können.
Und vor nicht mehr als drei Monaten, in jener Abtei auf dem Mont St. Michel in Frankreich, war es wieder le Nantres gewesen, der die Suche nach dem Drachenkelch mit allen Mitteln fortgesetzt hatte und dabei so rücksichtslos vorgegangen war, dass Ariana zu Tode verletzt in Braedons Armen gelegen hatte. Damals hatte Kenrick in seiner Verzweiflung auf ein Wunder gehofft, das seine arme sterbende Schwester noch hätte retten können. Und tatsächlich wurde Ariana auf wundersame Weise geheilt – durch die geheimnisvolle Magie des Steins Calasaar. Aber Kenricks Überzeugungen waren zu sehr von Vernunft geprägt, um zu glauben, dass ihnen noch einmal so viel Glück beschieden wäre.
»Hier entlang, Ihr Herren«, sprach der Priester, der nun an der arg beschädigten Tür seines kleinen Gotteshauses stand.
Kenrick und Braedon traten über die Schwelle, die anderen Begleiter hingegen blieben draußen und hielten Wache.
In der Kapelle war es still und düster, denn in dem kleinen Mittelgang brannten lediglich einige Kerzen in einem schlichten ehernen Ständer. Das Altartuch war an einem Ende angesengt, inzwischen hatte man es aber wieder geglättet und an seinen alten Platz gelegt. Der Geistliche beugte das Knie, ehe er gemessenen Schrittes auf den Altar zuhielt.
»Es stand hier, seht Ihr?« Er deutete auf den Altar, der nun leer war, und schüttelte betroffen den Kopf, der die bei Mönchen übliche Tonsur aufwies. »Glaubt mir, ich bin niemand, der sein Herz an weltliche Dinge hängt, aber dieses Kreuz war ein ganz besonderes Geschenk an unseren Kirchsprengel, daher ist der Verlust umso schmerzvoller. Vor einigen Jahren überreichte uns der Abt von St. Michael’s Mount das Kreuz.«
Ein kalter Schauer durchrieselte Kenrick, als er den Namen der Abtei hörte, die auf einer Insel vor der Südwestküste Englands errichtet worden war.
»Und genau das haben uns diese Gesetzesbrecher gestohlen. Kann man das verstehen?«
Ja, Kenrick verstand es sogar sehr gut.
St. Michael’s Mount war der Ort, an dem Silas de Mortaine das erste Teilstück des Drachenkelchs erhalten hatte – Avosaar, den Stein des Wohlstands.
Demnach war es keineswegs Zufall, dass de Mortaines Schergen nun ein Artefakt entwendet hatten, das mit eben jenem heiligen Ort in Verbindung stand. Nicht zum ersten Mal verfluchte Kenrick seine lange Kerkerhaft in Frankreich, die ihn von der Suche nach dem Schatz abgehalten hatte. Und zu allem Unglück hatte er einen bedeutenden Teil seiner eigenen Forschungen an de Mortaine und dessen verräterischen Helfershelfer, Draec le Nantres, verloren – ein Gedanke, der immer
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