Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
ihr zu bleiben, aber sie wusste, dass er nicht auf ihre Bitte hören würde. Alles, was für ihn noch von Bedeutung war, war seine Rache – hatte er das in ihrem Beisein nicht wiederholt betont? Sie wusste, dass ihn nichts davon abhalten würde, den einmal eingeschlagenen Weg unbeirrt fortzusetzen.
Dabei hatte sie im Stillen gehofft …
»Nimm mich mit.« Ehe es ihr richtig bewusst wurde, waren ihr die Worte über die Lippen gekommen. Sie hatte leise gesprochen, doch sowie sie die Bitte geäußert hatte, war sie auch fest entschlossen, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. »Nimm mich mit nach Egremont, Rand.«
»Ich soll dich mitnehmen?« Unglaube schwang in seiner tiefen Stimme mit. »Das kann ich nicht, Serena. Das kann unmöglich dein Wunsch sein, glaub mir.«
»Doch«, beharrte sie. »Du musst mich mitnehmen.«
Er runzelte die Stirn und wich ein wenig von ihr zurück. »Das sagst du nur, weil du deiner Mutter zürnst. Ich denke, während der letzten Tage habe ich noch mehr zu deiner Verwirrung beigetragen.«
Serena stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich bin weder zornig noch verwirrt. Ich bitte dich nur, mich mitzunehmen, da ich erkannt habe, dass es stimmt, was du über mein Leben in diesen Wäldern gesagt hast. Ich wusste es schon vorher, wollte es aber nicht wahrhaben. Der Tag wird kommen, an dem dieser Wald für mich und meine Mutter nicht mehr sicher sein wird.«
Sie blickte sich um und sah die Bäume, die sie so gut kannte, die kaum sichtbaren Pfade durch das Dickicht, die schattigen Winkel, in denen sich so leicht Jäger verbergen konnten. Einst war es die Neugier gewesen, die die Sehnsucht in ihr geweckt hatte, diesen Ort zu verlassen. Jetzt allerdings empfand sie den Schritt als notwendig, spürte sie doch, dass ihr behütetes Zuhause bereits Risse hatte und vor ihren Augen verschwinden würde.
»Rand, du hast selbst gesagt, dass ich nicht ewig hierbleiben kann. Genauso wenig darf ich darauf hoffen, dass die Menschen unseren Wald für immer meiden.«
»Aber mit mir in die Siedlung zu gehen, ist keine gute Lösung.«
»Doch«, gab sie entschieden zurück. »Ich muss wissen, was jenseits der steinernen Grenze liegt, denn wenn du fort bist, muss ich mich darauf vorbereiten, meine Mutter von hier fortzubringen, damit wir woanders ein neues Leben beginnen können. Vielleicht werde ich dieses neue Leben auch ohne sie führen müssen.«
Rand bedachte sie zwar mit einem zweifelnden Blick, widersprach ihr jedoch nicht.
»Nimm mich nach Egremont mit. Wenn dir etwas an mir liegt, dann gewähre mir diese eine Gunst, Rand. Ich könnte mich auch allein auf den Weg machen, aber lieber ginge ich mit dir.«
»Mir gefällt das nicht«, gab er grollend von sich. »Und deiner Mutter wird es auch nicht gefallen.«
In dieser Hinsicht hatte er gewiss recht. Serena wagte sich nicht auszumalen, wie ihre Mutter auf diese Entscheidung reagieren würde. Aber es musste sein. »Sie wird mich verstehen. Ihr bleibt nichts anderes übrig, denn ich habe meinen Entschluss gefasst.«
Am nächsten Morgen wartete Rand vor der Hütte, während Serena ihrer Mutter Lebewohl sagte. Er rechnete mit einem lauten Wortwechsel und tränenreichen Bitten, aber in der kleinen Hütte blieb es still. Eine tiefe Verzweiflung schien von dem Ort auszugehen, die sich noch verstärkte, als die Tür langsam aufging.
Zuerst trat Serena ins Freie, dicht gefolgt von ihrer Mutter, deren Miene undurchdringlich wirkte. Serena umarmte ihre Mutter. Calandra drückte sie an sich und hatte die Arme noch steif ausgestreckt, als Serena sich schon längst wieder von ihr gelöst hatte. Serena mochte nur für ein oder zwei Tage fort sein, aber in dem Blick der älteren Frau lag die Furcht, ihre Tochter werde nie mehr zu ihr zurückkehren.
»Ihr wird kein Leid geschehen, solange sie bei mir ist«, sagte Rand, an die weißhaarige Frau gewandt. »Ich werde sie mit meinem Leben schützen. Ich gebe Euch mein Wort, dass Serena an meiner Seite in Sicherheit ist.«
Darauf erwiderte Calandra nichts. Mit einem verzweifelten Blick in Serenas Richtung drehte sie sich um und verschwand schweigend in der Hütte. Mit dumpfem Laut schloss sich die Tür.
17
Egremont hatte das verbriefte Recht, jeweils in der Mitte der Woche einen Markt abzuhalten. Als Rand und Serena den Marktplatz über die Hauptstraße erreichten, herrschte an den Ständen bereits geschäftiges Treiben. Serena blieb an Rands Seite. Sie hatte die behandschuhten Hände verschränkt und nahm den Anblick, den
Weitere Kostenlose Bücher