Der Keller
warmen Tages war die Nacht so kühl, dass eine Windjacke oder ein dickes Hemd durchaus angebracht gewesen wäre. Zitternd schloss sie die Tür und ging vorsichtig die Stufen hinunter.
Die alte, selbstgezimmerte Treppe wackelte unter ihren Füßen, und die Holzplanken waren feucht und glitschig. Sandy wohnte seit einem Monat in dem Wohnwagen und war schon mehrere Male darauf ausgerutscht. Zum Glück passierte ihr das heute Nacht nicht.
Der Boden vor der Treppe war kühl und feucht. Schon bald klebten Piniennadeln an ihren Füßen.
Sie umrundete einmal den Wohnwagen, wobei sie Acht gab, nicht über die Anhängerkupplung, den Grill, den Wasser- oder Propangastank zu stolpern oder in die Wäscheleine zu laufen. Sie bemerkte nichts Ungewöhnliches - leider war auch Slades Wagen nirgendwo zu sehen. Bis auf die vom Mondlicht beschienenen Rasenflächen war alles ziemlich finster, und der Wald lag in völliger Dunkelheit.
Dann fand sie die alten Reifenspuren, die den Hügel hinunterführten. Seit sie hier wohnte, hatte sie täglich diesen Weg benutzt, um in die Stadt zu kommen.
In jeder Kurve hoffte sie, dass dahinter endlich Marlon Slades Wagen auftauchen würde, und jedes Mal wurde sie enttäuscht.
Sandy machte es nichts aus zu laufen. Zwar wollte sie endlich dieses Auto finden und die Stadt verlassen, doch andererseits genoss sie diese Nachtwanderung. Es war aufregend, nur mit Shorts und einem Geschirrtuch bekleidet durch die Finsternis zu spazieren. Sie spürte die Bewegung ihrer Muskeln, spürte, wie der Stoff des Tuches sanft über ihre Haut strich. Die leichte Berührung des kühlen Windes und die feuchte Erde unter ihren Füßen fühlten sich gut an.
Sie schlich fast geräuschlos dahin, hörte den Wind in den Bäumen, das Kreischen der Möwen und das Murmeln der weit entfernten Brandung.
Wohin es uns auch verschlägt, dachte sie, es muss ein Ort wie dieser sein: Eine nette Lichtung in Küstennähe, auf der wir bis zu unserem Lebensende bleiben können.
Außer jemand findet uns.
Jemand wie Marlon Slade.
»Dieser widerliche Typ«, murmelte sie und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schössen.
Wegen ihm sind wir jetzt auf der Flucht, dachte sie. Das ist so ungerecht.
Erst hatten sie diese gottverdammten Filmfritzen aus Agnes’ Haus vertrieben, wo sie und Eric heimlich gewohnt hatten. Die Heimlichtuerei war vorher schon anstrengend genug gewesen, doch nach Beginn der Dreharbeiten wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, sich weiterhin dort zu verstecken. Also hatte Agnes alle Vorbereitungen getroffen, damit sie in den Wohnwagen umziehen konnten.
Sie hatte Agnes mit gemischten Gefühlen verlassen.
Agnes war für sie Mutter, Schwester und beste Freundin in einem, und sie vermisste sie schrecklich. Noch dazu hatte sie große Angst davor gehabt, allein zu sein.
Andererseits fand sie es auch sehr aufregend, einen Platz ganz für sich allein zu haben - selbst wenn es nur ein abgehalfterter alter Wohnwagen war.
Bald fand sie heraus, dass sie gerne in diesem Wohnwagen lebte.
Wie sich herausstellte, hätte sie noch einen weiteren Monat bei Agnes bleiben können. Offenbar verzögerten irgendwelche Probleme den Beginn der Dreharbeiten.
Jetzt war sie froh um diesen Monat.
Denn so wie es aussah, würde es der einzige Monat bleiben, den sie jemals in ihrem Wohnwagen in den Hügeln über Malcasa Point hatte verbringen dürfen.
Hoffentlich fand sie irgendwo ein Plätzchen, das genauso schön war.
Nein. Unmöglich. Malcasa war ihre Heimat. Hier hatte sie Agnes und die anderen kennen gelernt, hier hatte sie sich in den Vater ihres Sohnes verliebt und ihr Kind zur Welt gebracht.
Ich will hier nicht weg!
Sandy fing an zu weinen.
Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste fliehen, obwohl sie Marlon Slade aus Notwehr getötet hatte. Kein Gericht der Welt würde sie dafür des Mordes anklagen.
Doch wenn sie blieben, würde Eric früher oder später entdeckt werden. Und das wäre dann das Ende ihrer trauten Zweisam-keit.
Praktischerweise konnte sie sich mit dem Geschirrtuch die Tränen von Augen und Wangen wischen, während sie den Pfad hinunterging.
Es ist nicht fair, dachte sie. Wir haben doch niemandem etwas getan.
Na ja, fast niemandem.
Sie musste aufhören zu weinen. Das Geflenne war kindisch und außerdem viel zu laut.
Es wird alles gut, sagte sie sich. Wir fahren einfach woanders hin, lassen die Leiche dieses dreckigen Hurensohns irgendwo verschwinden, und dann können wir unentdeckt und in Frieden
Weitere Kostenlose Bücher