Der Ketzerlehrling
Gefangenen, der eines derart schweren Verbrechens angeklagt ist, keinerlei Risiko eingehen dürfen. Hier hat niemand das rechte Verständnis für die Gefahr, die der Christenheit droht, sonst würde es keine Diskussionen geben, überhaupt keine! Er muß hinter Schloß und Riegel bleiben, bis sein Fall verhandelt wird.«
»Robert?«
»Ich kann dem nur zustimmen«, sagte der Prior und schaute geflissentlich an seiner langen Nase herunter. »Die Anklage ist zu schwerwiegend, als daß wir auch nur das geringste Risiko eines Fluchtversuches eingehen dürften. Außerdem ist die Zeit, die er im Gewahrsam verbringt, keineswegs vergeudet. Bruder Anselm hat zur besseren Unterweisung seines Geistes Bücher zur Verfügung gestellt. Wenn wir ihn hierbehalten, kann der gute Same auf einen Boden fallen, der noch nicht völlig unfruchtbar ist.«
»So ist es«, sagte Bruder Anselm ohne erkennbare Ironie, »er liest, und er denkt über das nach, was er gelesen hat. Er hat mehr als nur Silberpennies aus dem Heiligen Land mit heimgebracht. Ein intelligenter Mann muß sich auf einer derartigen Reise mit leichtem Gepäck begnügen, aber in seinem Kopf kann er eine Welt zusammentragen.« Er ließ es weise bei dieser nicht ganz eindeutigen Bemerkung bewenden, bevor Chorherr Gerbert sie mit seinem schwerfälligen Verstand durchschauen und in ihr einen winzigen Anflug von Ketzerei entdecken konnte. Es empfahl sich nicht, einen völlig humorlosen Mann zu reizen.
»Anscheinend wäre ich überstimmt, wenn ich mich für eine Freilassung hätte aussprechen wollen«, sagte der Abt trocken, »aber wie die Dinge liegen, bin ich gleichfalls dafür, den jungen Mann auch weiterhin hier in Gewahrsam zu behalten. In diesem Haus habe ich zu bestimmen, aber für den Fall bin ich nicht mehr zuständig. Wir haben den Bischof informiert und hoffen, bald von ihm zu hören. Die Entscheidung liegt jetzt bei ihm, und unsere Aufgabe besteht lediglich darin, ihm oder seinen Beauftragten den Angeklagten auszuhändigen, sobald er seinen Willen kundgetan hat. Ich bin in dieser Angelegenheit jetzt nicht mehr als ein Werkzeug des Bischofs. Es tut mir leid, Master Girard, aber das muß meine Antwort sein. Ich kann Euch nicht als Bürgen annehmen, ich kann Elave nicht in Eure Obhut geben. Ich kann Euch nur zusichern, daß er in meinem Haus nicht zu Schaden kommen wird – oder weitere Gewalttätigkeiten erleiden muß«, setzte er bestimmt, wenn auch ohne besonderen Nachdruck hinzu.
Girard sah ein, was er als unabänderlich hinnehmen mußte, versuchte aber trotzdem, aus dem, was ihm geblieben war, soviel wie möglich herauszuholen. »Kann ich dann«, sagte er schnell, »wenigstens damit rechnen, daß mich der Bischof, wenn es zu einer Verhandlung kommt, ebenso bereitwillig anhören wird, wie Ihr es gerade getan habt?«
»Ich werde dafür sorgen, daß er über Euren Wunsch und Euer Recht, angehört zu werden, informiert wird«, sagte der Abt.
»Und dürfen wir jetzt, da wir einmal hier sind, Elave sehen und mit ihm reden? Zu wissen, daß ein Dach über dem Kopf und eine Stellung auf ihn warten, wenn er frei ist und sie annehmen kann, könnte sehr beruhigend für ihn sein.«
»Ich habe keine Einwände«, sagte Radulfus.
»In Begleitung«, sagte Gerbert schnell und laut. »Es muß ein Bruder zugegen sein, als Zeuge für alles, was gesprochen wird.«
»Das läßt sich leicht einrichten«, sagte der Abt. »Bruder Cadfael stattet dem jungen Mann nach dem Kapitel seinen täglichen Besuch ab, um zu sehen, wie seine Verletzungen heilen. Er kann Master Girard begleiten und die ganze Zeit dabeibleiben.« Und damit erhob er sich gebieterisch, um weitere Einwände, auf die Chorherr Gerberts zweifellos weniger beweglicher Verstand vielleicht noch verfallen mochte, von vornherein zu verhindern. Er hatte nicht einmal einen Blick in Cadfaels Richtung geworfen. »Dieses Kapitel ist beendet«, sagte er und verließ vor seinen weltlichen Besuchern den Kapitelsaal.
Elave saß auf einer Pritsche unter dem schmalen Fenster seiner Zelle. Auf dem Lesepult neben ihm lag ein aufgeschlagenes Buch, aber er las nicht mehr, sondern dachte über das Gelesene nach. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er in den Werken der frühen Kirchenväter, die Anselm ihm gebracht hatte, nicht viel Begreifbares gefunden hatte. Er hatte den Eindruck, daß die meisten von ihnen mehr Zeit damit verbrachten, sich gegenseitig herabzusetzen, als Gott zu loben, mit mehr Giftigkeit bei der einen Beschäftigung als
Weitere Kostenlose Bücher