Der Kimber 1. Buch: Ehre (German Edition)
wir unser Land finden?“
„Sehr schön, mein Junge, eine gute Frage. Wah r schei n lich zu schwierig, aber mal sehen, welches Bild sie he r vorruft.“
Fjörm breitete das Laken auf den Bodenbrettern aus und verlangte von Agnar, der mit hä n genden Armen danebenstand, nur auf die weiße Farbe des Tuches zu blicken und alles andere möglichst nicht wahrzune h men. Agnar bemühte sich krampfhaft, doch irgendwie stahlen sich gerade jetzt immer wieder andere Eindr ü cke in sein Bewusstsein: der Ruf eines Vogels, Stimmen der Mägde aus den we i ter entfernten Wagen. Eine Fli e ge war durch eine Ritze ins Wageninnere gedrungen und zog au f dringlich summend ihre Kreise. Fjörm b e obachtete ihn lächelnd.
„Streng dich nicht zu sehr an, warte einfach ab, was von selbst passiert.“
Agnar entspannte sich etwas. Das Weiß des Tuches begann vor seinen Augen zu flimmern, durch das u n bewegte Stehen wurde ihm schwindelig. Endlich nahm Fjörm den Beutel und lee r te den Inhalt mit einem Ruck auf die helle Unterlage. Agnars Augen suchten Halt in dem Gewirr der dünnen Stäbe. Er zögerte, dann flü s terte er: „Ich sehe ein Tier, einen Ochsen...“, dann wurde er sich sicherer: „... ja g e nau, ein Ochse. Nein, mehrere...... ganz deutlich, viele davon, und dazwischen Karren und Wagen und Menschen.“
Agnar war völlig überwältigt, die unregelmäßigen Gruppen der Stäbe hatten sich von selbst zu Bi l dern gefügt. Er suchte Fjörms Blick. Doch der sammelte schweigend die Stäbe ein und legte das Tuch zusa m men. Erst nachdem er wortlos alles in der Truhe ve r staut hatte, wandte er sich wieder dem Jungen zu.
„Geh zu den anderen Kindern zurück und spiele.“
Agnar war völlig verunsichert, er hatte das Gefühl i r gendetwas verpatzt zu haben ohne genau zu wi s sen, was denn eigentlich richtig gewesen wäre. Z u dem füh l te er sich seltsam schlapp und missmutig. Statt zu den Anderen zurückzugehen, suchte er sich einen verstec k ten Winkel und versuchte sich über das Vorgefallene klar zu werden.
Inzwischen war es im Wagen der Priester zu einem Zusammenstoss zwischen Fjörm und Wid geko m men. Wid hatte den Jungen aus dem Wagen ko m men sehen und hatte Fjörm zur Rede gestellt. Als Fjörm ihm von dem Versuch erzählte, hatte Wid ungewöhnlich heftig reagiert.
„Was fällt dir ein, diesen Knaben jetzt schon in die Geheimnisse einzuweihen? Du weißt, dass seine Au s bildung genau nach den Regeln zu erfolgen hat. Erst in zwei Jahren wird er aufg e nommen werden. Wenn er sich würdig erwiesen hat, wenn er geho r chen und di e nen gelernt hat, dann kann man ihm vielleicht den Z u gang zu den alten Überlieferungen eröffnen. Und wenn er hier nicht versagt, dann erst wird man ihn in die Mysterien einweihen können. Alle r dings glaube ich nicht, dass es so weit kommen wird, denn die Herkunft dieses Kindes ist für mich mehr als zweifelhaft. Nie wird ein Knabe unreinen Blutes den Weg Odins b e schreiten.“
Fjörm war zurückgezuckt, hatte Wid aber ausspr e chen lassen. Dann sammelte er sich zu einer mö g lichst ruh i gen Erwiderung.
„Du magst Recht haben mit deiner Erinnerung an die althergebrachte Tradition unserer Ausbildung. De n noch, wir leben in schwierigen Zeiten, so dass das Al t hergebrachte nicht immer das Richtige für die neuen Umstände sein kann. Da du die Regeln der Ahnen aber so sehr liebst, erinnere ich dich jetzt daran, dass ich der oberste Priester bin und meine Entscheidu n gen von niemandem in Zweifel gezogen werden können. Nicht heute und nicht in Zukunft.“
Wid schlug die Augen nieder, es arbeitete hart in se i nem Gesicht. Wortlos drehte er sich um und ve r ließ den Wagen. Fjörm blieb an seinem Platz und blickte ins Leere. Die Zukunft würde schwierig werden, Wid stand dem Jungen heute schon ausg e sprochen ablehnend gegenüber. Wenn sich die F ä higkeiten Agnars so entw i ckelten, wie sich das he u te angekündigt hatte, wü r de es früher oder später zum offenen Konflikt kommen. Aber Fjörm wusste, dass die Zeit drängte und für die übliche langwier i ge Ausbildung keinen Spielraum ließ. In einem Punkt hatte Wid allerdings nicht so ganz U n recht: der Knabe war wirklich noch fast zu jung, um die Last zu tragen, die Fjörm so früh auf seine Schu l tern legen musste. Trotzdem war er sich sicher, dass er ke i ne andere Wahl hatte.
In unregelmäßigen Abständen holte Fjörm nun Agnar zu sich und übte mit den Buchenstäben. Agnar fand es immer leichter, störende
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