Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
ist ja völlig außer sich.«
Dann hatte Diana begonnen anzurufen, hatte anfangs stets in ruhigem Ton gefragt, ob sie Emily sprechen könne.
»Diana, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, hatte Lorraine unsicher gesagt.
»Wenn du so weitermachst, schicke ich dir die Polizei auf den Hals«, hatte Michael gedroht. »Untersteh dich, du wirst schon merken, dass es mir ernst ist.«
Danach sprach sie nie mehr einen Ton. Sie wartete nur, zehn, fünfzehn Sekunden, dann legte sie auf. Michael behauptete, es wäre irgendein Perverser, der einfach eine beliebige Nummer wählte und sich daran aufgeilte, ins Telefon zu schnaufen. Lorraine nickte, vielleicht, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Die Sehnsucht und das Verlangen, die vielleicht am anderen Ende der Leitung atmeten, waren von ganz anderer Art.
Und jetzt war es wieder etwas anderes: An drei der letzten vier Nachmittage hatte sie – Diana – drüben auf der anderen Straßenseite gestanden, wenn Lorraine mit Emily von der Schule nach Hause gekommen war. Das erste Mal war Lorraine richtiggehend erschrocken, als sie sie da in diesem flaschengrünen Mantel mit der Kapuze sah, den sie anscheinend immer trug. Sie hatte gezögert, erwartet, dass Diana über die Straße zu ihnen kommen würde; hatte geglaubt, es sei etwas passiert, etwas von Bedeutung. Aber nein. Keine Bewegung. Kein Zeichen des Erkennens. Nichts, außer dass sie da war und zu ihnen herüberschaute.
Lorraine schob Emily hastig ins Haus; den Wagen konnte sie auch später noch in die Garage fahren, sie hatte Zeit genug, bevor Michael nach Hause kam. Sie richtete Emily, wie jeden Tag nach der Schule, eine kleine Leckerei, verteilte vier oder fünf Kekse in Tierform auf Emilys Peter-Rabbit-Teller rund um ein Stück Biskuitrolle von Marks & Spencer; dann scheuchte sie das Kind mit seinem Teller und einem Glas Bananenmilch ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Diana stand immer noch draußen, drei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite, neben einer verwachsenen Zwergmispel. Sie hatte die Hände in den Taschen, und ihr Gesicht sah kalt aus, ausdruckslos und kalt. Lorraine musste gegen einen plötzlichen Impuls ankämpfen, hinauszugehen und mit ihr zu reden, ihr guten Tag zu sagen, sie ins Haus zu bitten. Es müsste doch möglich sein, dass sie sich hier in der Küche zusammensetzten und bei einer Kanne Tee miteinander redeten.
Sie hatte nie viel mit Diana gesprochen.
»Du sprichst nicht mit Diana, verstanden?«, hatte Michael gesagt und keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm ernst war. »Du bringst Emily hin und setzt sie ab. Das Einzige, was du mit ihr besprechen musst, ist die Zeit, wann du das Kind wieder abholst. Das ist alles. Ist das klar?«
Wenn sie mit Diana sprechen könnte, würde sie vielleicht Michael etwas besser verstehen. Könnte versuchen, dafür zu sorgen, dass sich das, was zwischen den beiden schiefgegangen war, nicht wiederholte. Aber sie wusste, dass das nicht ging. Es war irreal. So etwas passierte im Kino, im Fernsehen, in ›Nachbarn‹ oder ›Brookside‹. Außerdem würden sie dann wahrscheinlich über die Zeit sprechen müssen, als Diana in der Klinik war, und davon wollte Lorraine eigentlich am liebsten nichts wissen.
»Das einzig Erstaunliche daran ist«, hatte Michael gesagt, als er davon erfahren hatte, »dass sie nicht schon vor Jahren dort gelandet ist. Da ist sie am besten aufgehoben.«
Lorraine trat vom Küchenfenster weg, wärmte die Kanne mit heißem Wasser, das sie ins Spülbecken goss, ehe sie einen Teebeutel in die leere Kanne gab und sie zu drei Vierteln mit kochendem Wasser füllte. Als sie wieder hinausblickte, war Diana weg.
Aber drei Tage später war sie wieder da; und zwei Schultage danach wieder. Lorraine begann nach Vorwänden zu suchen, um Emily nicht direkt nach Hause bringen zu müssen: Sie wolle bei Sainsbury’s noch etwas einkaufen; sie könnten in die Stadt fahren und im Restaurant essen, das wäre doch nett? Die Tage wurden kürzer, Diana war kaum mehr als ein Schatten, den Lorraine mit einem Blick über die Schulter flüchtig wahrnahm, wenn sie Emily eilig ins Haus schob; das bleiche Oval eines Gesichts über einem formlosen dunklen Fleck, dunkler als seine Umgebung.
Plötzlich schnürte es Lorraine die Kehle zu: Was tat sie da? Holte eine Sechsjährige von ihrer Mutter weg, entzog sie ihr.
»Mami!«, hatte Emily einmal gerufen, als Lorraine sie durch die Haustür drängte.
»Was ist mit ihr?« Mit dem
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