Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
immer alles sofort anzufassen und zu befühlen.
»Ray-o!«
Er hatte auf der Mauer vor dem Pub gesessen, als er ihr seinen Namen verriet, seinen Spitznamen, und sie hatte ihn freudig laut herausgekräht, während sie auf und nieder hüpfte, dass ihr ganzer kleiner Körper bebte.
»Ray-o! Ray-o! Ray-o!«
Ohne zu überlegen, hatte er sie hochgehoben und im Kreis herumgewirbelt wie ein Karussell, bis er sie schließlichvorsichtig wieder absetzte. Sie hatte gelacht und gezittert, sich trotz aller Begeisterung wohl doch auch etwas gefürchtet. Als er sie das nächste Mal sah, Tage später, zupfte sie ihre Großmutter an der Hand und zeigte über die Straße – »Ray-o!« –, und er winkte hastig und ging weiter.
Jetzt warf er Decke und Laken zurück, zog ein T-Shirt und die Hose vom Vortag über und ging hinauf ins Badezimmer. Draußen war es noch dunkel.
Als er fünfzig Minuten später durch die Hintertür aus dem Haus ging, sorgsam darauf bedacht, nicht in den Hundekot auf dem von Gras und Unkraut überwucherten kleinen Platz zu treten, war er überrascht, wie rau die Luft war. Er bemerkte nichts von dem schwarzen Sierra, der zwischen anderen Autos schräg auf der Straße parkte, und auch nichts von dem Fotoapparat, der durch den Spalt eines halb heruntergekurbelten Fensters auf ihn gerichtet war und dessen Surren und Klicken vom Geräusch seiner Schritte auf dem Pflaster übertönt wurde.
*
»Erkennen Sie ihn, Mrs Summers?«
Lynn Kellogg breitete die Fotografien auf dem Tisch aus, eine Serie eilig entwickelter Bilder im Format 25 x 20. Die Großaufnahme war immerhin so scharf, dass man den Hauch der Atemluft erkennen konnte, die aus dem Mund des Mannes aufstieg.
»O ja«, sagte Edith Summers. »Das ist der Junge.«
»Welcher Junge?«
»Der, in den Gloria so vernarrt war.«
»Oh.«
»Ja. Ray-o.«
»Heißt er so?«
»So hat sie ihn genannt. Gloria, meine ich. Wahrscheinlichheißt er Raymond. Ray. Ein netter Kerl, nicht wie so manch andere.«
Als Lynn nach Mablethorpe hineingefahren war, hatte ein Sonnenstrahl von beinahe empörendem Glanz die Wolken durchdrungen, die sie auf der ganzen Fahrt begleitet hatten. Edith Summers war draußen vor ihrem Bungalow und kehrte den kurzen Fußweg von der Pforte zur Haustür mit einem Handfeger. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, eine neue Rolle Vollkornkekse anzubrechen und Tee zu kochen.
»Was meinten Sie, als Sie sagten, Gloria sei in Raymond vernarrt gewesen, Mrs Summers?«
»Ach, Sie wissen schon, manchmal hat sie mir endlos von ihm vorgequasselt, und sie hat sich immer gefreut, wenn sie ihn gesehen hat. Ja, so war das. Und Raymond, der hat ihr immer was zugerufen, wenn er sie gesehen hat, und hat ihr zugewinkt und so. Bisschen herumgekaspert.«
»Wo war das, Mrs Summers?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wo haben Gloria und Raymond sich normalerweise gesehen?«
»Ach, auf dem Boulevard, unten bei der Schule. Manchmal auf dem Spielplatz.«
»Auf dem Spielplatz?«
»Ja, da war er manchmal.«
»Mit Freunden?«
»Nein. Wenigstens glaub ich das nicht. Er war eher ein Einzelgänger. Meiner Erinnerung nach war er immer allein. Ich habe ihn, glaube ich, nie mit anderen gesehen.«
»Und wo genau auf dem Spielplatz war er, wenn Sie ihn gesehen haben?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Warum? Was spielt das alles für eine Rolle?«
»Bei den Schaukeln?«
»Ja, kann schon sein, dass er bei den Schaukeln war. Aber …«
»Und ist Ihnen aufgefallen, ob er auch mit anderen kleinen Mädchen an den Schaukeln gescherzt hat oder …?«
»Jetzt hören Sie mal …«
»… oder immer nur mit Gloria?«
»Hören Sie, ich bin nicht blöd, ich weiß doch, worauf Sie hinauswollen. Sie behaupten …«
»Ich behaupte gar nichts, Mrs Summers.«
»Doch.«
»Mich interessiert nur …«
»Ja, ich weiß schon.«
»… ob er zu Gloria einen besonderen Draht hatte, ob sie ihm vertraut hat …«
»Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt. Er ist ein netter Junge, ein netter junger Mann. Sehr höflich. Was Sie da andeuten …«
»An dem Tag, an dem Sie Gloria auf der Schaukel zurückgelassen haben, Mrs Summers, an dem Tag, an dem sie verschwunden ist, haben Sie da Raymond in der Nähe bemerkt? Wissen Sie das noch?«
»Nein.«
»Sie wissen es nicht mehr, oder …«
»Nein, er war nicht in der Nähe.«
»Sie sind sicher.«
Edith Summers nickte.
»Ganz sicher? Und wieso?«
»Weil ich ihn gesehen hätte, wenn er da gewesen wäre. Gloria hätte ihn gesehen.« Sie holte Luft. »Wenn
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