Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Raymond da gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert.«
»Wie das, Mrs Summers?«
»Weil ich sie bei ihm gelassen hätte, natürlich. Ich hätte ihn gebeten, ein Auge auf sie zu haben. Das hatte ich schon ein paarmal vorher getan.«Divine hatte mit Raymonds Chef telefoniert. Nein, nein, keine große Sache, nur eine Kleinigkeit, ganz sicher nichts, was man dem jungen Mann gegenüber erwähnen müsste, aber wenn es möglich wäre zu prüfen …
»Sie kommen am besten her«, sagte der Betriebsleiter.
Divine parkte seinen Wagen auf der anderen Straßenseite, fünfzig Meter entfernt. Man konnte schließlich nie wissen, was einem da auf den Lack spritzte, wenn man in den Hof fuhr. Gedärm auf Metallicblau war nicht jedermanns Sache.
»Mr Hathersage kommt gleich«, teilte ihm die ältliche Sekretärin mit, als sie ihn über den Hof zum Büro des Betriebsleiters begleitete. Es war kaum mehr als eine Kammer, mit einem Schreibtisch, drei Spießen voller Aufträge darauf und zwei Kalendern von Schlachtereien an der Wand – gar nicht so übel der eine mit der Kleinen, die auf der Mistgabel ritt.
Divine machte die Tür wieder ein Stück auf und lauschte dem Summen der Kühlanlagen.
Hathersage war ein stämmiger Mann in einem verschmierten weißen Kittel, um die fünfzig, ein Auge war geschwollen und gelb verschleimt. Sein Händedruck war fest und energisch.
»Ich hätte ihn nie eingestellt, wenn ich nicht Terry was geschuldet hätte. Das ist sein Onkel. Ich hoffe, ich werde es nicht noch bereuen.«
»Bis jetzt haben Sie das nicht getan?«
Hathersage schüttelte bedächtig den Kopf. »Der Junge ist durchaus willig. Keiner von denen, die pünktlich auf die Minute die Arbeit niederlegen. Nicht besonders hell in der Birne, aber was kann man heutzutage bei so einer Arbeit schon verlangen?«
»Aber er ist zuverlässig?«
»Absolut. Was hat er denn angestellt?«
Divine antwortete nicht. Stattdessen bat er den Betriebsleiter um Auskunft über Raymonds Arbeitszeiten.
Einige der gelernten Arbeiter machten Schichtarbeit, wie er erfuhr, auch nachts. Raymond jedoch hatte einen ganz normalen Arbeitstag, der von acht bis vier oder halb fünf dauerte.
»Fünf Tage in der Woche?«, fragte Divine. »Oder sechs?«
»Fünfeinhalb in der Regel. Manchmal zusätzlich sonntags.«
»Ein fester halber Tag?«
»Genau nach Plan.«
»Und wann hat unser Junge seinen halben Tag?«
»Dienstags.«
Divine ärgerte sich, dass er den Tag, an dem Gloria verschwunden war, nicht im Kopf hatte; nicht einmal das genaue Datum. Aber das ließ sich problemlos später nachprüfen. Jetzt sah Divine erst einmal auf seine Uhr und verglich die Zeit mit der auf der Wanduhr gegenüber dem Schreibtisch des Betriebsleiters.
»Ist es was Ernstes? Was der Junge gemacht hat?«
Divine schüttelte den Kopf. »Denk ich nicht.«
»Ich brauch mir also keine Sorgen zu machen?«
Wieder Kopfschütteln.
»Diebstahl?«
»Ihr Tresor ist sicher.«
Der Betriebsleiter prustete geringschätzig. »Was da drin ist, kann meinetwegen jeder mitnehmen. Ich geb ihm noch eine Kusshand dazu.« Er gab Divine mit feister Hand einen Klaps aufs Knie. »Mir sind hier schon mal die Rinderhälften weggekommen, als wären ihnen Beine gewachsen, sag ich Ihnen. Für drei-, vierhundert Pfund die Woche. Schließlich haben wir einen Sicherheitsdienst angeheuert. Für nachts. Da ist das Zeug immer verschwunden. Einer von Ihren Leuten hat das Rätsel am Ende gelöst. Er kam hier mit seinemWagen vorbei, wollte die Abkürzung über die Brücke nehmen. Komisch, hat er sich gedacht, dass die um diese Zeit laden. Als er seine Taschenlampe angemacht hat, hat er ungefähr zwanzig Schlachtkörper hinten in einem Mitsubishi Kombi liegen sehen. Und dieser gottverdammte Sicherheitsmensch hat die Kofferraumklappe offen gehalten, der hat halbe-halbe mit denen gemacht. Der Kerl, der hinter der ganzen Sache steckte, war sechs Jahre bei mir, die letzten drei hat er meiner Tochter den Hof gemacht. Und die war auch noch sauer, als ich mir gestattete zu sagen, dass ich nicht zur Hochzeit komme.« Der Betriebsführer seufzte. »Sie können hier auf ihn warten«, sagte er. »Ich pfeif ihn her.«
»Keine Eile. Ich vertrete mir inzwischen ein bisschen die Füße.«
»Macht einen ganz schön fertig, was?« Der Betriebsleiter öffnete die Bürotür und lächelte.
»Was meinen Sie?«
»Na, der Geruch. Meine Frau schwört, sie nimmt nur noch Vegetarier, wenn sie wieder auf die Welt kommt. Ich sag ihr immer, dass
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