Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
bauchigen Vase auf den Fliesen vor dem offenen Kamin. Auf Borden in einer der Mauernischen drängten sich Taschenbücher zusammen mit Kassetten, Zeitschriften, Andenken- und Fotoalben.
Auf einem Tisch in einer weiter entfernten Nische standen Fotografien von Emily, größtenteils Erinnerungen an ihre vierzehntäglichen Besuche bei ihrer Mutter: Emily mit unsicherer Miene beim Streicheln eines Esels; im Badeanzug an einem Hallenschwimmbecken; mit Diana auf der Treppe vor Wollaton Hall.
Es gab keine Bilder, die sie alle drei, Michael, Diana und Emily, zusammen zeigten, die Familie, die sie einmal gewesen waren.
»Heda! Was zum Teufel tun Sie da?«
Michael drehte sich um und sprang zu Boden; der rotgesichtige Mann stand am Zaun des Grundstücks, das hinten an den Garten grenzte.
»Ich wollte sehen, ob jemand zu Hause ist«, erklärte Michael.
»Nein, keiner da.«
»Wissen Sie zufällig, wo sie ist? Diana, meine ich.«
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich bin – ich war ihr Mann.«
»Ah ja.«
»Ich muss sie sprechen. Es ist dringend.«
»Sie war das ganze Wochenende nicht hier, soviel ich weiß. Wahrscheinlich verreist.«
»Sie wissen nicht, wohin?«
Der Mann schüttelte den Kopf und machte kehrt, um zu seinem eigenen Haus zurückzugehen. Michael lief zum Torbogen und wieder nach vorn. Die Frau zwei Häuser weiter stand mit der Bürste in der einen und einem Gummi-Kniepolster in der anderen Hand da und bewunderte ihr Werk, die Treppe strahlte vor Sauberkeit.
»Ich suche Diana«, sagte Michael, bemüht, sich nichts von seiner Angst anmerken zu lassen.
»Die ist schon das ganze Wochenende weg.«
»Wissen Sie, wo sie ist?«
»Keine Ahnung.«
»Sie war nicht mal kurz hier?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Und ein kleines Mädchen war auch nicht hier? Sie haben Diana nicht mit einem kleinen Mädchen gesehen, sechs Jahre, rötliche Haare.«
»Das ist Emily. Ihre Tochter. Ja, die habe ich natürlich schon oft gesehen, aber wie gesagt, in den letzten Tagen nicht.«
Michael schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
»Das macht sie immer so. Wenn die Kleine nicht bei ihr ist. Dann fährt sie Samstag, Sonntag weg. Aus Traurigkeit, wenn Sie mich fragen.«
»Wieso?«
»Na ja, der Mann, mit dem sie verheiratet war, der lässt sie das Kind nicht öfter sehen. Eine Schande ist das.«
Von einer Zelle aus rief Michael Lorraine an. Mit zitternder Hand schob er die Münze in den Zahlschlitz. »Sie ist nicht hier. Kein Mensch ist hier. Du hast nichts von ihr gehört?«
»Nein. Ach, Michael …«
»Ich fahre auf dem Heimweg bei der Polizei vorbei.«
»Soll ich auch kommen? Wollen wir uns dort treffen?«
»Nein, es ist besser, wenn jemand im Haus ist. Nur für den Fall.«
»Michael?«
»Ja?«
»Mach schnell, ja?«
Er rannte zum Wagen zurück. Emily war jetzt seit anderthalb Stunden verschwunden, vielleicht ein wenig länger. Als er auf die Hauptstraße einbiegen wollte, musste er scharf bremsen, um einem Bautransporter auszuweichen, der Richtung Eastwood den Berg herunterkam. Der Fahrer beschimpfte ihn wütend durch die Scheibe. Machlangsam, ermahnte er sich, reiß dich zusammen; wenn du jetzt durchdrehst, hilft das keinem.
Die Hände um den Becher gekrampft, in dem der Tee längst kalt geworden war, saß Lorraine in der Küche und starrte zum Fenster hinaus. Das Licht der Straßenlampen war stetig heller geworden, seit sie dort saß. Jedes Mal, wenn ein Auto in die Straße einbog, stockte ihr der Atem; jemand hatte Emily gefunden und brachte sie nach Hause. Und jedes Mal fuhr das Auto vorbei. Wenn sie auf der Straße Schritte hörte, verrenkte sie sich beinahe den Hals, während sie darauf wartete, die Schritte ihren Gartenweg heraufkommen und ein ungeduldiges Klopfen an der Haustür zu hören.
Das kleine Mädchen, die Kleine, die verschwunden ist, Sie wissen schon.
So etwas las man in der Zeitung oder sah es in den Fernsehnachrichten, entsetzlich, die Gesichter dieser Eltern, die Fotografien ihres Kindes. Die flehentlichen Bitten um Verschonung und Freilassung.
Sie haben die Leiche gefunden.
Und Michael, der sie plötzlich angestarrt hatte, mit solcher Gewissheit.
Das war doch klar …
Als gäbe es gar keine andere Möglichkeit, kein anderes Ende.
Hast du etwas anderes erwartet?
Der Becher fiel ihr aus der Hand und zersprang auf dem Boden. Sie ließ die Scherben liegen.
Als Michael endlich zurückkam, hatte er einen ganzen Konvoi dabei. Ein Streifenwagen, weiß mit blauem Streifen, fuhr voraus, und
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