Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Ihren Aufsätzen Ihr Augenmerk richten. Also, dann …«
Ein kurzes Lächeln und sie schloss das Buch zum Zeichen, dass die Stunde vorüber war.
»Geben Sie uns denn keinen Titel vor?«, fragte ein junger Mann, dessen wilde Künstlermähne in krassem Gegensatz zu seinem leisen, kultivierten Ton stand.
»Na schön.« Erst als Vivien aufstand, nahm sie Resnick mit einem kurzen Blick zum anderen Ende des Raums zur Kenntnis. »Wie wäre es mit ›Begehren und Raum: Die Erotik der Distanz in der kanadischen Lyrik?‹ Ist Ihnen das prätentiös genug?«
Zwei oder drei Studenten lachten; der Junge, der gefragt hatte, wurde rot.
»Müssen wir uns auf die Lyriker beschränken, über die wir gesprochen haben?« Die junge Frau mit dem weizenblonden Haar ging mit Vivien zur Tür.
»Nein, keineswegs. Aber Rhona McAdam, Susan Musgrave, das wäre vielleicht ein guter Anfang. Danach …«, sie lächelte, »sind die Möglichkeiten unendlich.«
Die Studenten verschwendeten kaum einen Blick an Resnick, als sie hinausgingen.
»Ich habe auf eine dramatische Intervention gewartet«, bemerkte Vivien, immer noch lächelnd. »Mindestens einen dreiminütigen Vortrag über die persönliche Sicherheit und den Schutz der eigenen Siebensachen.«
Resnick wies mit dem Kopf zur Tür. »Weiß der Himmel, was die dachten, wer ich bin. Jemand vom Bauamt wahrscheinlich, der begutachten soll, ob die Räume einen neuen Anstrich brauchen. Aber besonders interessiert wirkten sie sowieso nicht.«
»Oh, man muss cool sein. Keinesfalls übermäßiges Interesse an irgendwas zeigen. Am wenigsten an der Arbeit oder an fremden Männern. Aber falls sie gekränkt sein sollten, sie hielten Sie wahrscheinlich für meinen Liebhaber. Sie glauben bestimmt, dass ich irgendwo einen versteckt habe.« Sie lachte leise. »Zumindest hoffe ich das.«
Na los, dachte Resnick, komm schon, hast du einen oder nicht? Und als wüsste sie, was er dachte, blitzte Spott in ihren Augen auf.
»Das Gedicht, das Sie gelesen haben«, sagte Resnick. »Es war doch ein Gedicht?«
»Ja.«
»Hat es einen Titel?«
»›Infinite Beasts‹. Hier, nehmen Sie. Ich leihe es Ihnen.«
Resnick blickte von ihrem Gesicht zu dem Buch in seiner Hand. »Das ist nicht nötig.«
»Doch, doch, ich brauche es im Moment nicht. Sie können es mir später zurückgeben.«
Der Einband des Buchs war blassrosa, der Titel in Schwarz und Grau aufgedruckt. Er fragte sich, ob sie blau getönte Linsen trug oder ob das ihre natürliche Augenfarbe war. »Der Mann, den Sie joggen gesehen haben …«
»Sie haben ihn gefunden.«
»Wir glauben es jedenfalls. Wir hätten gern, dass Sie auf die Dienststelle kommen, um ihn zu identifizieren, wenn Ihnen das möglich ist.«
»Sie meinen, Sie wollen so eine Parade veranstalten, wo man die Leute sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden?«
»Ganz so raffiniert ist es bei uns nicht«, entgegnete Resnick. »Kein Einwegspiegel, nur ein Raum, der so groß ist, dass alle hineinpassen und sich gegenseitig begaffen können.«
»Das klingt weit abschreckender«, sagte Vivien.
»Das ist es auch. Aber Sie werden das schon schaffen.« Ohne dass es eigentlich nötig gewesen wäre, sah er auf die Uhr. »Wenn wir gleich loskönnten … es müsste inzwischen alles vorbereitet sein.«
»Dann fahren wir.«
Als sie am Büro der Sekretärin vorbeigingen, sagte sie: »Wenn wir mit Ihrem Wagen fahren, bringen Sie mich dann zurück?«
»Nicht unbedingt ich. Aber irgendjemand ganz sicher.«
Wie sie das fand, behielt Vivien Nathanson für sich.
Stephen Shepperd erschien in einer Tweedjacke mit Ellbogenflicken und einer braunen Cordhose. Patel gab sich alle Mühe, ihm die Nervosität zu nehmen, während sie auf Resnicks Rückkehr warteten, aber Shepperd war mit Höflichkeitund Smalltalk über die Außentemperatur nicht zu beruhigen.
Als Resnick den Raum betrat, in dem sie warteten, öffnete Shepperd den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. Vor lauter Anspannung biss er sich auf die Unterlippe.
»Ihnen ist bekannt, dass Sie das Recht auf eine Begleitperson haben?«, fragte Resnick.
Shepperd schüttelte den Kopf.
»Sie wissen, dass Sie das Recht haben, die Teilnahme an dieser Gegenüberstellung abzulehnen, dass wir Sie aber, wenn Sie das tun, auf andere Weise mit dem Zeugen konfrontieren dürfen?«
Shepperd nickte.
»Ebenso, dass im Fall Ihrer Nichtteilnahme dies bei einem eventuell folgenden Gerichtsverfahren gegen Sie verwendet werden darf.«
»Bei
Weitere Kostenlose Bücher