Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
baue es aus, ich entwerfe es nach meinen Vorstellungen, ich gestalte es. Meine Häuser sind meine Kunstwerke. Das ist nicht das erste Haus, das ich als Ruine gekauft und dann ausgebaut habe. Und während ich arbeite, entsteht in meinem Kopf langsam ein Preis, zu dem ich es verkaufen würde. Und wenn ich diesen Preis gefunden habe, dann steht er fest, und ich ändere nichts mehr daran. Ich handle nicht. Ich diskutiere nicht. Und ich will auch nicht mehr haben, als ich mir selbst zum Ziel gesetzt habe. Ich arbeite schnell. Und ich arbeite gut. Wenn ich mir meine Arbeit adäquat bezahlen lassen würde, wären meine Häuser unerschwinglich. Aber mir geht es sowieso nicht ums Geldverdienen. Mir geht es darum, weiterhin bescheiden leben zu können. Um nicht mehr und nicht weniger.«
    »Du bist ein Philosoph.« Dieser Mann zog sie immer mehr in seinen Bann. Er begann sie zu faszinieren. Nicht als Mann, als Mensch. Seine Gedanken, seine Art beeindruckten sie.
    »Ach Gott«, meinte er, »ein Philosoph! Nein, Anne, ich lese philosophische Bücher, sicher, aber verstehe ich sie auch? Philosophien anderer sind mir fremd. Ich kann sie mir nicht zu Eigen machen. Ich mache mir meine eigene Philosophie ..., aber leider hatte ich noch keine Gelegenheit, sie aufzuschreiben.«
    Beide schwiegen einen Moment, dann sagte Enrico: »Ich mache dir einen Vorschlag. Hol deine Sachen und wohn ein paar Tage hier. Das Tal hat eine Atmosphäre, die man langsam auf sich wirken lassen muss, damit man herausfindet, ob man sie mag oder nicht, ob man sie überhaupt aushält. Hier allein zu sein ist eine Art Grenzerfahrung, Anne. Die Stille überfällt dich wie ein Hammerschlag. Es gibt kein Geräusch der Zivilisation, das bis hierher vor dringt. Kein Autolärm, keine Stimme, kein Türenschlagen, keine Musik Absolut nichts. Und dann die Dunkelheit. Die Nacht ist hier so schwarz, wie du es wahrscheinlich noch nie erlebt hast. Und nicht ein einziger kleiner Lichtpunkt von einem Haus, einer
    Laterne, einem Scheinwerfer — nichts dringt bis hierher. Unsere Augen sind es gewöhnt, sich in der Nacht an irgendeiner Lichtquelle festzuhalten, das ist eine Art von Hoffnung und die Sicherheit, nicht allein zu sein auf der Welt. Aber das fehlt hier völlig. Jeder Blick verliert sich im totalen Schwarz. Oder im totalen Nichts. Wie du es nennen willst Das alles ist faszinierend und beängsti gend zugleich. Und man kann hier nur leben, wenn man so etwas sein Leben lang gesucht hat. Das solltest du ausprobieren, Anne. Es ist nicht so wichtig, ob in diesem Haus ein Wasserhahn tropft oder ein Fenster nicht richtig schließt. Das bringe ich dir alles in Ordnung. Aber ob du die Einsamkeit aushältst, das ist entscheidend.«
    Anne spürte, dass er Recht hatte. »Hast du ein Glas Wasser für mich?«
    Enrico nickte und füllte ein Glas unterm Wasserhahn.
    Anne erinnerte sich daran, was Harald gestern Abend am Telefon gesagt hatte. Dass sie auf die Klärgrube, die Abflussrohre und die Wasserleitungen achten solle. Dass sie aufpassen sollte, nicht beschissen zu werden. Das war seine Welt. Das waren die Probleme, die Harald beschäftigten. Enrico war ganz anders. Für ihn galt eine Empfindung mehr als eine funktionierende Heizung. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, dem Leben viel näher zu sein.
    Aber sollte sie wirklich hier bleiben? Hier, in der Einsamkeit, allein mit diesem fremden Mann? Denn im Grunde kannte sie ihn überhaupt nicht, sie wusste nichts über ihn, nur seinen Namen, und der musste nicht stimmen. Niemand wusste, wo sie war. Es war auch sinnlos, eine Adresse anzugeben. »Valle Coronata«, damit konnten nur die paar Alten in Duddova etwas anfangen, sonst niemand. Hierher kam ja noch nicht einmal die Post. Sie lieferte sich diesem Mann völlig aus, wenn sie hier blieb. Sie kannte das Haus nicht und auch nicht den Wald. Sie hatte keine Chance, wenn er nicht so freundlich war, wie es schien. Er war in jedem Fall stärker als sie. An Flucht war nicht zu denken, und ein Handy funktionierte im Tal nicht.
    Das ist der nackte Wahnsinn, lass es bleiben, schrie ihr Verstand. »Bella halb« hat auch seine dunklen Seiten. Vergiss nicht, dass dein Kind hier verschwunden ist. Auch in einem Wald, nur wenige Kilometer von hier entfernt. Aber was hatte sie noch zu verlieren? Einen Mann, der sie betrog, ein Leben in Friesland, das sie anödete, und einen Schmerz, den sie nicht bewältigte. Gut, wenn Enrico ihr etwas tat, würde sie nie gefunden werden, er könnte sie im Wald

Weitere Kostenlose Bücher