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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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kreisen begannen, fing Allora leise an zu singen. Und es hörte sich an wie eine Glocke. Wie das Angelusläuten der mittelalterlichen Kapelle in San Vincenti.
    52
    Anne erwachte, als die aufgehende Sonne mit ihrem rötlich orangefarbenen Licht schlagartig die Gespenster der Nacht vertrieb. Die Atmosphäre im Mühlenzimmer war derart unwirklich und fantastisch, dass sie augenblicklich von einem tiefen Glücksgefühl erfüllt war. Alles war gut. Alles war in Ordnung. Sie hatte nur Angst gehabt, weil sie die Einsamkeit, das Tal und vor allem Enrico nicht kannte. Das war alles. Sie sah auf die Uhr. Halb sechs. So früh. Enrico war sicher noch nicht wach.
    Sie sah sich in der Mühle um. Es war etwas anderes, ob man ein Zimmer besichtigte oder ob man darin aufwachte. Zum Beispiel hatte sie vorher gar nicht registriert, wie schön und groß der Kamin war. Enrico hatte ein eisernes Ofenbild in die Rückwand eingemauert, das spielende Kinder auf einer Wiese zeigte. Neben dem Kamin hingen gerahmte Fotos von der Ruine. Eigentlich waren darauf nur Mauerreste, überwucherte Steine und morsche, schwarze Balken zu sehen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie man den Mut auf bringen konnte, aus diesem verwilderten »Nichts« wieder so ein Schmuckstück zu erschaffen. Enrico war ein Künstler. Nicht nur ein Philosoph, sondern auch jemand, der richtig zupacken konnte, um etwas Schönes entstehen zu lassen. Denn Ästhetik war ihm offensichtlich sehr wichtig. In die halbmeterdicke Natursteinwand hatte er hier und da kleine steinerne Regale oder Nischen eingebaut, ab und zu einen dicken Feldstein freigelassen und dann die Wand um den Stein herum weiß verputzt. Er hatte winzige Fensterchen, so groß wie ein halbes Blatt Papier, in die Mauer gebaut, in einem lag ein besonders schöner Stein, in einem anderen stand eine winzige Blume in einer ebenso winzigen Vase. Vor dem Fenster hing ein Halbedelstein an einer schmiedeeisernen Kette und reflektierte funkelnd das Licht. Davor stand ein kleiner Tisch mit nur einem Stuhl. Wenn man an diesem Tisch saß, hatte man einen wundervollen Blick über das gesamte enge Tal und den Bachlauf bis hin zum Parkplatz. Das würde ihr Schreib- und Leseplatz werden, beschloss Anne, von hier aus könnte sie auch immer rechtzeitig sehen, wenn jemand kam und sich den beiden Häusern näherte.
    Die Mühle war ein einziges, aus lauter Kleinigkeiten komponiertes Kunstwerk. Und der Komponist war ein Künstler, dem es nicht um Praktikabilität, sondern um Schönheit ging.
    Anne stand langsam auf und streckte sich. Merkwürdigerweise fühlte sie sich ausgeruht und frisch. Ihre Schuhe standen ordentlich nebeneinander neben der Tür. Enrico musste sie ihr ausgezogen und dort hingestellt haben. Sie zog sie an, denn sie wollte sich noch weiter in der Mühle umsehen, und stieg langsam die hölzerne Stiege zum unteren Mühlenraum hinunter.
    Dieser Raum war wesentlich dunkler als der obere, der Blick aus dem Fenster war nicht so beeindruckend, da man sich nur unwesentlich höher als der Bachlauf befand. Aber es war ein Zimmer zum Verkriechen, mit einem dicken Schmöker in einem bequemen Sessel, unter einer warmen Leselampe, an einem düsteren, stillen Tag. Das kleine Bad, das sich dem unteren Mühlenraum an schloss, gefiel ihr. Es war winzig und rustikal. Die dunklen Deckenbalken und die alten Deckenmattoni wirkten wie eine schützende Decke über einem Menschen, der sich allein in der Tiefe der Mühle auszog und dadurch so unendlich verletzlich wurde, wenn er in die Dusche stieg. Enrico hatte den Rahmen des Spiegels über dem Waschbecken selbst geschnitzt, und eine kleine Jugendstillampe gab diffuses Licht. Nicht genug, um sich zu schminken, aber allemal genug, um sich wohl und heimisch zu fühlen. Auch dieses Bad war eher ein Versteck. Man schloss hinter sich die Tür und war ah lein auf der Welt. Anders als im großen Bad des Haupthauses, das einem ein freies, helles Gefühl vermittelte, in das die Sonne schien und in dem man sich groß fühlte durch die Weite des Raumes, der einen umgab.
    Das ist doch mein Haus, dachte Anne. Hier habe ich beides. Hier habe ich alles Hier kann ich mich entfalten und wachsen und ich kann mich zurückziehen und reduzieren auf das Wesentliche. Valle Coronata war Burg und Keller, Berg und Tal, Sonne und Schatten. Es war grenzenlose Freiheit und lebendig Begrabensein zugleich.
    Anne ging zu der gläsernen Tür, die auf die kleine Mühlenterrasse führte, der Schlüssel steckte von innen,

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