Der Kindersammler
sie schloss auf und trat hinaus.
Enrico schwamm im Naturpool. Ruhig und langsam, als bemühe er sich, das Wasser nicht zu bewegen und kein Geräusch zu machen. Er lächelte, als er sie sah.
Dann stieg er langsam aus dem Wasser.
Vollkommen nackt.
Enrico spürte, dass sie sich bemühte, nicht zu genau hinzusehen, aber sie tat es dennoch. Er merkte auch, dass sie den Anschein erwecken wollte, es wäre alles ganz normal, vollkommen natürlich, aber es gelang ihr nicht. Enrico fand ihre Unsicherheit rührend und lächelte.
»Gut geschlafen?«, fragte er, während er sich am Poolrand mit dem Gartenschlauch abspritzte.
Anne nickte nur.
»Nimm doch auch ein Bad«, meinte er. »Es ist unglaublich erfrischend und bringt den Kreislauf so richtig in Schwung.«
»Nein, danke.« Anne fröstelte, wenn sie das Wasser nur ansah. »Ein Kaffee tut's auch.«
Anne hatte den Kaffee bereits gekocht, alle Lebensmittel, die sie fand und die irgendetwas mit Frühstück zu tun haben könnten, auf ein Tablett gestellt und nach draußen gebracht. Sie deckte gerade den Tisch unterm Nussbaum, als Enrico dazukam. Er hatte sich Shorts und einen Pullover übergezogen und strahlte.
»Das riecht ja richtig gut.«
Er setzte sich und goss den Kaffee ein. »Hörst du die Vögel?«, fragte er. »Hier im Tal gibt es unglaublich viele. Glücklicherweise. Sie sind mein Wecker. Wenn sie bei Sonnenaufgang anfangen zu singen, bin ich wach und stehe auf.«
»Ich war gestern Abend sehr müde, glaube ich«, wagte Anne einen vorsichtigen Vorstoß, um herauszufinden, was geschehen war und wie Enrico darüber dachte.
»War wohl alles ein bisschen viel für dich. Is ja auch klar.« Enrico war zart und verständnisvoll. Wie eine Mutter, die zu ihrem Kind, das sich verbrannt hat, sagt: »Es ist meine Schuld, Schatz, ich hätte dir sagen müssen, dass die Herdplatte heiß ist.«
Er redete weiter. »Du bist plötzlich zusammengeklappt und eingeschlafen. Ich hab versucht, dich wach zu kriegen, aber das war unmöglich.«
»War ich ohnmächtig?«
»Vielleicht. Kann sein. Jedenfalls hab ich dich einfach in die Mühle getragen, hingelegt und dich schlafen lassen.«
»Danke.«
Enrico beschmierte sich ein hartes Stück Schwarzbrot derartig dick mit Butter, dass Anne allein vom Hinsehen übel wurde. Sie selbst trank nur den Kaffee und Wasser aus der Quelle. Sie hatte weder Hunger noch Appetit.
»Passiert dir das öfter?«, fragte Enrico.
»Eigentlich nicht.« Anne überlegte. »Obwohl — in den letzten Jahren verschwimmen mir immer häufiger Traum und Wirklichkeit. Ich weiß nicht mehr, was ich geträumt habe und was wirklich passiert ist. Träume sind manchmal so real, dass ich sie für bare Münze nehme, und die Wirklichkeit erscheint mir manchmal so irreal, dass ich das Erlebte einfach zu den Akten lege und mir sage, mach dich nicht verrückt, es war ja nur ein Traum.«
»Das kenne ich gut.« Enrico lächelte. Er wusste schon lange nicht mehr, was Wahrheit und was Lüge war. Sein Leben war ein einziger Wirrwarr an Geschichten. An echten und erfundenen, er hatte keine Vergangenheit, nur eine vage Vorstellung von seiner Vergangenheit, und die wechselte jeden Tag. Dann legte er sich eine neue Geschichte zurecht, die ihm gefiel und die er sich merken konnte, und die erzählte er immer und immer wieder, wenn er gefragt wurde, bis er nicht mehr gefragt wurde und die Geschichte wieder vergaß. Und wenn er wochenlang geschwiegen hatte, war seine Vergangenheit wie ein weißes Blatt Papier, das neu beschrieben werden wollte.
»Vielleicht komme ich hier ein bisschen zur Ruhe«, sagte sie. »Vielleicht gelingt es mir hier, mich neu zu sortieren.«
»Was hast du denn erlebt?«
Sie überlegte noch, warum sie es ihm eigentlich nicht erzählen mochte, als Kai auf dem Parkplatz hielt und langsam zum Haus heraufkam. Anne sah auf die Uhr. Halb acht. Sie starrte ihn an wie eine Fatamorgana, denn sie hätte ihr Vermögen verwettet, dass Kai kein Mensch war, der freiwillig so früh aus den Federn kam.
Kai trank erst einmal in Ruhe einen Kaffee, dann machten sie den Compromesso, den Vorvertrag, der — wenn auch nicht notariell beglaubig — vor Gericht seine Gültigkeit hatte. Kai hatte die Standardformulierungen im Kopf und setzte einen formlosen Vertrag auf, den er mit Durchschlag schrieb und in dem Enrico bestätigte, das Haus zu einem Preis von zweihunderttausend Euro verkaufen
zu wollen, während Anne ihrerseits versicherte, das Haus zum Preis von zweihunderttausend
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