Der Kindersammler
Ferne auf dem Hügel liegen sehen, aber zu Fuß waren es mindestens vierzig bis fünfzig Minuten, schätzte Anne. Nein, das gefiel ihr nicht. Da war ihr Valle Coronata tausendmal lieber.
Nach einer Dreiviertelstunde hatten die beiden alles inspiziert. »Okay«, sagte Enrico. »Dann rede mit Fiamma. Ich kaufe es, aber ich zahle nicht mehr als dreißigtausend.«
»Und wenn die Gemeinde fünfunddreißigtausend haben will?« Kai hatte keine Ahnung, was die Ruine kosten sollte, es war nur ein Versuchsballon, um Enrico besser einschätzen zu können.
»Dann nehme ich es nicht.«
Kai seufzte vernehmlich und fluchte innerlich. Immer diese verdammte Prinzipienreiterei. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, mit Fiamma zu reden. Mit ihrem Mann, dem Bürgermeister, war es einfacher. Der war weich und gutmütig und nach zwei Flaschen Chianti zu allem bereit, aber Fiamma hatte im gesamten Valdarno den Ruf, dass man sich an ihr sämtliche Zähne ausbeißen konnte. Und sie führte die Verhandlungen. Jedenfalls immer dann, wenn es um Geld ging.
53
Anne sagte Kai, dass sie noch zwei, drei Tage in Valle Coronata bleiben wolle, und Kai machte sein »Du-musst-es-ja-wissen-Gesicht«, das er ständig parat hatte, weil er es in seinem Beruf häufig einsetzen musste. Dann versprach er, die Angelegenheit mit Fiamma so schnell wie möglich in Angriff zu nehmen, und brauste davon.
Es war ein warmer Tag. Der Lavendel vor der Badezimmertür duftete so stark, dass Anne ihn bis zum Nussbaum riechen konnte. Lavendel, Rosmarin, Salbei alles blühte üppig vor der Mühle, die Grillen zirpten, und Anne hatte das Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben alles richtig zu machen.
Enrico war bereits seit anderthalb Stunden im Haus und meditierte, als Aldo, ein Olivenarbeiter aus Duddova, auf seinem Mofa angeknattert kam und direkt vor der Küchentür anhielt. Enrico schaute oben aus dem Schlafzimmerfenster. Aldo grinste mit seinem zahnlosen Mund, und Enrico fragte: »Buonasera, Aldo. Perche sei venuto? Ch'e successo?« Enrico war höflich, aber nicht übermäßig freundlich, da er es überhaupt nicht ausstehen konnte, überrascht zu werden. Dass das aber einzig und allein seine eigene Schuld war, weil man ihn telefonisch nicht erreichen konnte, schien er einfach nicht zu begreifen.
Aldo hatte viel Zeit. Mit seinem eingefrorenen Dauergrinsen stieg er langsam vom Mofa und klopfte sich den Staub aus der Arbeitshose, während er Anne eingehend musterte. Im Gegensatz zu Enrico, der sich um solche Dinge nie Gedanken machte, wurde Anne schlagartig bewusst, was sich Aldo jetzt denken musste. Enricos Frau war in Deutschland, und hier saß eine andere auf der Terrasse, in Shorts und Sandalen, mit einem Sonnenhut auf dem Kopf und einem Buch in der Hand. Sie machte alles andere als den Eindruck einer Besucherin, die nur mal für ein paar Minuten vorbeigekommen war. Wahrscheinlich bezog sich Aldos Dauergrinsen auf die Tatsache, dass es endlich wieder eine schöne Geschichte gab, über die man sich in Duddova mindestens zwei Tage lang das Maul zerreißen konnte.
»Carla mi ha chiamato«, sagte Aldo, aber in diesem Moment verschwand Enricos Kopf im Fensterrahmen, und er kam die Treppe herunter. Er kam nicht — er flog. Wenn er wollte, konnte er so schnell sein wie ein Zwanzigjähriger.
Gut, dass er uns nicht zusammen erwischt hat, dachte Anne. Wenn wir jetzt beide die Treppe heruntergekommen wären, das wäre schlimmer gewesen. Aber einer oben, einer unten — das ging ja gerade noch.
Aldo meinte, Carla hätte ihn angerufen und gebeten, Enrico zu sagen, dass sie heute um achtzehn Uhr in Montevarchi auf dem Bahnhof ankäme. Enrico möge sie doch bitte abholen.
»Certo«, sagte Enrico. »Natürlich. Das mach ich doch. Danke, Aldo. Danke, dass du extra gekommen bist, um mir das auszurichten.«
»Gern geschehen«, brummte Aldo, und »geht ja nicht anders.« Anne glaubte, aus seiner Stimme ein gewisses Unverständnis herauszuhören. Diese bekloppten Deutschen, die einsam wohnten und noch nicht mal ein Telefon hatten. Damit schadeten sie nicht nur sich selbst, wenn mal was passierte, sondern machten auch den Nachbarn nur Umstände.
Enrico verschwand in der Küche und kam Sekunden später mit einer Flasche Prosecco wieder heraus, die er Aldo in die Hand drückte.
»Grüße deine Frau von mir! Und nochmals vielen Dank.« Jetzt strahlte Aldo übers ganze Gesicht, nahm die Flasche, klemmte sie auf seinen Gepäckträger, nickte Anne kurz zu, stieg auf sein Mofa
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