Der Kindersammler
Euro kaufen zu wollen. Als Anzahlung zahlte sie zehn Euro. Würde Anne Valle Coronata jetzt doch nicht kaufen, wären die zehn Euro für sie verloren, würde Enrico es an einen anderen verkaufen, müsste er Anne die zehn Euro nicht nur zurück -, sondern noch zehn Euro draufzahlen. So regelte es das italienische Gesetz.
»Ein Blödsinn«, meinte Kai. »Wollt ihr nicht eine reelle Anzahlung, von — sagen wir mal — fünfzigtausend Euro machen? Dann seid ihr beide auf der sicheren Seite!«
Aber Enrico lehnte ab und schüttelte den Kopf. »Mit Geld ist man nie auf der sicheren Seite. Vertragsstrafen bringen gar nichts. Wenn Anne sich das Ganze bis zum Notartermin noch einmal anders überlegt und das Haus doch nicht haben will, dann ist das in Ordnung. Ich für meinen Teil werde es keinem anderen geben. Darauf hat sie mein Wort. Und mein Wort wiegt schwerer als fünfzigtausend Euro.«
Anne schwieg und bekam eine Gänsehaut. Wo gab es auf dieser Welt noch Menschen mit einem derartigen Ehrenkodex? Enrico faszinierte sie immer mehr, und sie wusste plötzlich, dass sie ihm vertraute. Voll und ganz.
Kai zog nur die Augenbrauen hoch. Für ihn war Enrico kein Geschäftsmann, sondern ein Spinner, der über kurz oder lang fürchterlich auf die Nase fallen würde. Es gab an jeder Ecke Menschen, die es förmlich rochen, wo irgendjemand über den Tisch zu ziehen war, und Enrico eignete sich vorzüglich dazu. Aber er sagte nichts. In diesem Fall würde sicher alles gut gehen. Das hatte er im Gefühl.
Enrico unterschrieb als Erster. Ungewöhnlich langsam, mit hohen steilen Buchstaben. Er malte seinen Namen förmlich, und Anne hatte den Eindruck, dass er in seinem Leben noch nicht allzu oft unterschrieben hatte, was sie merkwürdig fand. Als Manager eines Mineralölkonzerns hatte er wahrscheinlich zigmal am Tag eine Unterschrift geleistet.
Sie sah auf das unterschriebene Blatt und stutzte. »Du heißt Alfred?«
»Ja, leider«, Enrico lächelte. »Aber nur offiziell. Nur, wenn ich unterschreiben muss. Ansonsten bin ich Enrico. Mit diesem Namen fühle ich mich wohler.«
Anne nickte. Sie kannte nur wenige Leute, die mit ihrem Namen zufrieden waren. Felix war es. Er war von seinem Namen begeistert gewesen, seit ihm seine Oma erzählt hatte, dass »Felix« »Der Glückliche« bedeutete. Und glücklich war er.
Als sie alle drei unterschrieben hatten, standen sie auf und gingen zum Parkplatz. Anne hatte ihre Handtasche dabei, aber Enrico hatte nicht nur das Geschirr auf dem Tisch unter dem Nussbaum stehen lassen, auch die Haustür stand sperrangelweit offen. Er meinte, nichts Wichtiges im Haus zu haben, das er unbedingt einschließen müsse. Und wenn jemand irgendetwas stehlen (er sagte: »mitnehmen«) sollte, dann solle er es halt nehmen. Er würde es sicher nötiger brauchen als er und hätte hoffentlich seine Freude daran.
Kai warf Anne einen »Da-siehst-du-mal-was-er-für-einen-Knall-hat-Blick« zu, und Anne grinste. Die drei stiegen in Kais schwarzen Jeep, und Kai fuhr los. Richtung San Vincenti.
Kai zeigte Enrico Casa Meria, eine Ruine in der Nähe von San Vincenti. Er erklärte, dass dort bis vor zwei Jahren die alte Giulietta gewohnt hatte, die im Dorf nur die Hexe, Giulietta la strega, genannt wurde. Sie lebte dort zusammen mit einer Verrückten, die sich um Giulietta gekümmert und nach deren Tod das Haus in Brand gesteckt hatte. Mittlerweile hatte Brombeergestrüpp die Mauerreste der Ruine überwuchert, aber Enrico hatte einen Blick dafür, was man aus einem Haus machen konnte und was nicht.
Zum großen Teil waren die Decken eingestürzt, die verkohlten Balken lagen auf lockeren Steinen oder waren heruntergebrochen und ragten in den Himmel.
Da sie Interesse signalisieren wollte, hatte Anne versucht, in den unteren Zimmern herumzuklettern, aber ihr fehlte die Fantasie, sich in den verkohlten Trümmern ein schönes, fertiges Haus vorzustellen. Außerdem zerkratzte sie sich die nackten Beine im Gestrüpp und ließ es bleiben. Sie setzte sich auf die Wiese und beobachtete die beiden Männer, die sich jeden Winkel ansahen. An Enricos Waden lief bereits das Blut hinunter, er schien es weder zu bemerken, noch störte es ihn. Kai hielt sich ziemlich zurück und sagte wenig, offensichtlich akzeptierte er Enrico als Fachmann für Ruinen.
Anne sah sich um. Merkwürdigerweise fühlte sie sich hier noch einsamer als im Tal, weil das Haus freier lag und die schützenden Berge ringsum fehlten. Man konnte zwar San Vincenti in der
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