Der Kindersammler
es noch einmal singen würde.«
»Spiel es noch mal«, bat Carla. »Ich habe selten so eine schöne Kinderstimme gehört.«
»Wir hatten die Aufnahme auf Kassette, und ich hab sie dann auf CD pressen lassen, damit sie mir bloß nicht verloren geht.« Anne schaltete den CD-Player erneut ein.
Im ersten Moment war es wie ein Deja-vu-Erlebnis. Diese klare Kinderstimme. Enrico drehte sich um und glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, Felix zu sehen, wie er den Berg hinuntersprang und direkt auf ihn zukam. Doch dann versuchte er, seinen Verstand einzuschalten und sich selbst zu sagen, dass dies nicht möglich sein konnte, und natürlich war da niemand auf dem Weg, als er noch einmal hinsah.
Enrico atmete schnell, ihm war heiß. Die Kinderstimme hörte er immer noch. Bewusst hielt er den Atem an, um besser hinhören zu können, und da erkannte er das Lied. Es war das Lied, das Felix am Bach gesungen hatte. Dadurch war er überhaupt erst auf ihn aufmerksam geworden.
Enrico setzte sich bei weit geöffneter Tür einen Moment auf den Beifahrersitz und schloss die Augen. Die Worte, die er hörte, brannten in seiner Seele: »...ich träum von vergangener Liebe und von Treue und Sehnsucht und Schmerz. Wenn ich einmal muss reiten ins Jenseits, wenn gekommen mein letzter Tag, dann grabt mir, ihr Cowboys, als Letztes an den Ufern des River mein Grab.«
Er sah, wie Anne aufstand und einen CD-Player zurück in die Mühle brachte.
Felix, dachte er, verdammt noch mal, Felix, dass diese Frau deine Mutter ist, das konnte ich doch nicht ahnen.
Als Enrico sich wieder im Griff und sein Atem sich beruhigt hatte, ging er langsam zurück zum Haus.
Nach dem Frühstück fuhr Enrico sofort los. Carla wollte Wäsche waschen und sauber machen. Anne fragte, oh sie helfen könne, aber Carla lehnte ab. Anne hatte das Gefühl, dass sie ihre Ruhe haben wollte.
Also verschob Anne ihr Insektenvernichtungsprogramm in der Mühle auf später und machte sich zu Fuß auf den Weg nach La Pecora. Sie wollte Eleonore unbedingt erzählen, dass sie die Mühle gekauft hatte und dass sie nun Nachbarinnen waren.
Der Weg nach La Pecora war anstrengend. Es ging lange steil bergauf. Anne war derartige Fußmärsche nicht gewohnt und machte mehrere Pausen. Zwischendurch klingelte ihr Handy. Es war Kai.
»Können wir heute Abend feiern?«, fragte er.
»Wir können. Wo treffen wir uns?«
»Um sieben in Siena auf dem Campo? Ich weiß in der Nähe ein kleines Restaurant. Nicht touristisch, nicht übermäßig teuer, aber vorzüglich.«
»Ich freue mich«, sagte Anne und legte auf. In diesem Moment kam ihr der Gedanke, dass sie heute Abend vielleicht ihre Zahnbürste in ihre Handtasche stecken sollte. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, sie fühlte sich wie ein junges Mädchen vor ihrem ersten Rendezvous und stieg den Berg nun wesentlich zügiger hinauf als vorher.
Eleonore war gerade dabei, Aprikosenmarmelade einzukochen, als Anne in La Pecora ankam. Sie freute sich über Annes Besuch und beglückwünschte sie zum Kauf von Valle Coronata.
Gemeinsam saßen sie auf der Terrasse und entkernten Aprikosen, als Eleonore dieselbe Frage stellte wie Carla am Abend zuvor. »Was hat dich bewogen, dieses einsame Tal zu kaufen?«
Und genau wie am Vorabend erzählte Anne die ganze Geschichte und wiederholte auch kurz die Spekulationen, die sie über Felix' Verschwinden angestellt hatten.
Und dann sagte Eleonore etwas Entscheidendes: Es waren noch weitere Kinder verschwunden. 1997 ein elfjähriger Italiener, Filippa der auf seinem Weg zum Schulbus immer zehn Minuten durch den Wald gehen musste und eines Morgens nicht in der Schule ankam; und im Jahre 2000 Marco, der bereits dreizehn, aber ziemlich klein für sein Alter war, sodass er jünger wirkte. Er hatte sich mit Freunden an einem See in der Nähe von Cennina verabredet, aber am See warteten seine Freunde vergebens. Marco blieb bis heute verschwunden. Genauso wie Filippo.
Eleonore war eine Krimiliebhaberin. Sie las ausschließlich Kriminalromane und interessierte sich sehr für die beiden Fälle, als sie von den verschwundenen Kindern gehört hatte.
Also war doch nicht auszuschließen, dass in dieser Gegend ein unheimlicher Kindermörder sein Unwesen trieb und die Leichen so sicher versteckte, dass keine bisher gefunden worden war. In diesem Moment schwand Annes Hoffnung, Felix könnte vielleicht doch noch am Leben sein. Aber sie wunderte sich, dass Enrico und Carla offenbar nichts von den beiden anderen vermissten
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