Der Kindersammler
verloren?«
Carla lächelte müde. »Ich habe heute die Straße gepflastert. Als mir zu heiß wurde, bin ich ins Haus gegangen, um etwas zu trinken. Ich habe aus der Karaffe getrunken, die auf dem Küchentisch stand. Anschließend bin ich wieder rausgegangen und habe mich in die Hängematte gelegt, um ein bisschen zu lesen. Eine Viertelstunde vielleicht. Dann wurde es mir auch in der Hängematte zu heiß, und ich bin zurück ins Haus. Und da lag auf dem Küchen tisch dieses Foto.«
Enrico glaubte Carla jedes Wort. Er spürte, wie ihm kalt wurde. Eiskalt. Noch nie hatte er sich so ohnmächtig, so hilflos gefühlt.
»Warum hast du vorhin nicht gesagt, dass du das Bild hast?« »Damit auch Kai und Anne glauben, was du vorhin geglaubt hast? Nämlich, dass ich es war? Nee, nee. Wer das Bild hat, ist es gewesen. So einfach ist es doch. Und es ist auch die einzig mögliche Erklärung. Nein, niemals werde ich sagen, dass ich das Foto habe, und du sag es bitte auch nicht, Enrico, ja?«
Enrico nickte nur.
»Ich geh jetzt ins Bett«, sagte Carla. »Ich bin todmüde, und ich glaube, wir kommen heute Abend auch nicht weiter. Komm, lass uns schlafen, morgen fällt uns vielleicht irgendetwas ein, was wir heute übersehen haben.« Sie fühlte sich jetzt wesentlich besser. Dadurch, dass sie Enrico das Foto überlassen hatte, hatte sie auch die Verantwortung abgegeben. Ihre Nervosität war verflogen. In diesem Moment war es ihr sogar egal, wie das Foto auf ihren Tisch gekommen war, sie wollte nur noch schlafen und sich nicht mehr darüber den Kopf zerbrechen.
»la, ja, ich komme auch gleich«, sagte er, ohne sie anzusehen und ohne ihr einen Kuss auf die Wange zu gehen. »Gute Nacht.« Carla ging ins Haus.
Enrico blies die Kerze aus und blieb in der Dunkelheit regungslos sitzen.
Er musste nachdenken. Irgendetwas war geschehen. Die ganze Sache war ihm entglitten, er hatte die Kontrolle verloren. Irgendjemand wusste Bescheid und fing jetzt an, ein Spiel mit ihm zu spielen. Und im Moment war ihm dieser Unbekannte mindestens einen Zug voraus.
Die Nacht war kühl, aber er ging nicht ins Haus, um sich einen Pullover zu holen. Seine Gedanken rasten.
Allmählich wurde das Zirpen der Grillen weniger. Und leiser. Es dauerte noch fast eine Stunde, dann war alles still. Und in diesem Moment wusste er, wer das Spiel mit ihm spielte.
Anne. Natürlich. Es war eben doch kein Zufall gewesen, dass sie gerade das Haus gekauft hatte, in dem er ihren kleinen Sohn getötet hatte. Zufälle gab es nicht. Er hätte schon viel eher darauf kommen können. Wieso war ihm auch nicht aufgefallen, dass sie sich viel zu schnell für Valle Coronata entschieden hatte? So überstürzt kaufte man kein Haus. Normalerweise sah man sich mehrere Objekte an, bevor man sich entschied. Anne hatte nur dieses eine ge sehen. Sie wollte nur dieses eine. Sie war nach Italien gekommen, um Valle Coronata zu kaufen. Der Makler war nur Tarnung. Er war nur das Mittel zum Zweck gewesen, um unauffällig an ihn herantreten und wie eine ganz normale Interessentin erscheinen zu können. Er war viel zu vertrauensselig gewesen, er hätte gleich misstrauisch werden müssen.
Anne wusste alles. Sie wusste, dass ihr Sohn tot und dass er der Mörder war. Ihre Freundschaft war nur gespielt, ihre Freundlichkeit nur Fassade, um ihren Hass zu überdecken. Warum hatte sie so lange damit gewartet, bis sie erzählte, dass sie ihren Sohn suchte? Weil sie Angst gehabt hatte, dass er ihr das Haus nicht verkauft hätte, wenn er den wahren Grund gekannt hätte. Sicher. Er hätte es ihr auch nicht verkauft. Da hatte sie völlig Recht.
Sie war raffiniert. Sie wollte Beweise. Erst würde sie ihn zappeln lassen und versuchen, ihn unsicher und nervös zu machen. Sie genoss es, Macht über ihn zu haben. Sie wollte ihm demonstrieren, dass er die Kontrolle verloren hatte. Sie wollte seine Angst sehen, und irgendwann würde sie den Pool aufreißen und ihn auffliegen lassen.
Der Coup mit dem Foto war großartig. Sie hatte es geschickt eingefädelt und es wahrhaftig geschafft, ihn völlig aus der Fassung zu bringen.
Er erinnerte sich noch an den Morgen, als er den Wagen mit Werkzeug beladen hatte und vom Parkplatz her plötzlich Felix helle Kinderstimme singen hörte. Jenes Lied, das Felix damals am Bach gesungen hatte. Er hatte sich maßlos erschrocken, einen Moment war es geradezu unheimlich gewesen, diese Stimme zu hören. Da hatte sie mit dem Psychoterror bereits begonnen. Und auch das war ihm nicht
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