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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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dagegen tun. Nein. Das ist Einbildung. Immer wenn wir Menschen uns irgendetwas nicht erklären können, bringen wir den Zufall ins Spiel, und dann sind wir aus dem Schneider. Es muss eine Erklärung dafür geben, dass Felix' Bild verschwunden ist, wahrscheinlich eine ganz simple, wir kommen bloß nicht drauf.«
    »Aber was kann denn bei diesem Einbruch dahinterstecken? Sag's mir! Was gibt es denn für eine einfache, harmlose Erklärung? Ich wäre ja froh, wenn du eine hättest! Ich will jetzt bloß keine Philosophien hören, ich will wissen, was in Valle Coronata passiert ist und was das mit meinem Sohn zu tun hat!«
    Enrico schwieg. Ebenso Carla und Kai. Eine endlose Minute lang sagte niemand ein Wort.
    »Ist in Valle Coronata überhaupt schon einmal eingebrochen worden? Habt ihr vielleicht schon mal etwas Ähnliches erlebt?«
    Carla schüttelte den Kopf. »Nein. Nie. Gott sei Dank. Aber ich weiß von einigen einsam gelegenen Häusern, in die eingebrochen worden ist. Es waren immer Junkies. Beschaffungskriminalität. Sie haben nach Geld gesucht, dann haben sie ein paar Flaschen Wein mitgenommen und sind abgehauen. Wir sind zum Glück bisher verschont geblieben. Enrico hat immer gesagt, Valle Coronata findet keiner. Es liegt zu versteckt. Da hat er sich wohl geirrt.«
    Ich irre mich nicht, dachte Enrico, ich irre mich nie.
    Eine klein e Katze sprang auf Enricos Schoß. Er streichelte sie sanft und setzte sie dann wieder auf die Erde. Die Katze sprang sofort wieder auf seinen Schoß, und Enrico ließ sie sitzen und streichelte sie weiter. »Wenn du willst, Anne, können Carla und ich jederzeit bei dir in Valle Coronata übernachten. So lange, bis du keine Angst mehr hast. Oder bis du herausgefunden hast, was passiert ist.«
    »Nicht nötig. Ich bleibe heute Nacht bei Anne. Und wenn sie möchte, auch noch in den nächsten Tagen.« Kai war sehr energisch, und es war ihm egal, was Enrico und Carla dachten. Aber die beiden reagierten überhaupt nicht darauf.
    »Es gibt übrigens viele Kinder, die so aussehen wie Felix. Vielleicht hat ihn jemand verwechselt?«, meinte Enrico.
    »Vielleicht, vielleicht, vielleicht.« Anne stand auf, ihr Gesicht glühte immer noch. Sie nahm ein Glas Wein und schüttete es in einem Zug hinunter. »Vielleicht hat irgendjemand meinen Felix ja auch ganz aus Versehen ermordet. Vielleicht sollte es ein ganz anderer sein, und trotzdem ist Felix tot. Bitte, bring mich nach Hause, Kai, ich hab solche Kopfschmerzen, mein Kopf platzt fast.«
    Kai stand ebenfalls auf und nahm Anne fest in den Arm, um sie zu halten.
    »Vielen Dank für alles«, sagte er zu Enrico und Carla. »Wir melden uns.«
    Dann ging er langsam mit Anne zum Auto.
    »Sie ist spinös«, sagte Enrico leise zu Carla, als die beiden außer Sichtweite waren. »Aber das ist ja auch ganz klar. Sie muss sich erst an die Stille, die Einsamkeit, die Dunkelheit, an dieses völlig andere Leben in der Natur gewöhnen. In dieser Situation sieht man manchmal Sachen, die gar nicht da sind, und denkt Dinge, die gar nicht wahr sind.«
    »Aber das Foto ist doch definitiv verschwunden! Das hat sie sich doch nicht eingebildet!« Carla verstand nicht, warum Enrico so etwas sagte.
    »Weißt du es? Warst du dabei? Sie ist in einer Ausnahmesituation. Valle Coronata ist so etwas wie eine Grenzerfahrung. Und Mütter tun manchmal merkwürdige Dinge, wenn sie einen so schmerzlichen Verlust erlitten haben. Vielleicht hat sie das Bild selbst abgenommen und vernichtet, weil sie mit der Geschichte abschließen wollte. Weil sie nicht mehr so viele Stunden am Tag an Felix erinnert werden wollte. Weil sie hier ist, um ein neues Leben zu beginnen. Weißt du das?«
    »Und die kaputte Tür? Und das Blut auf der Erde? Wenn sie ein Bild loswerden will, schmeißt sie es weg. Fertig. Dafür muss sie nicht auch noch ihr eigenes Haus ramponieren. Diese Theorie haut irgendwie nicht hin. Aber warte mal einen Moment.«
    Carla lief ins Haus.
    Sie hat ja Recht, dachte Enrico. Anne, die ein großes Sicherheitsbedürfnis hatte, würde nicht ihre Haustür zerstören, nur um ein Bild loszuwerden. So etwas taten nur Verrückte, und verrückt war Anne nicht. Enrico dachte fieberhaft nach, aber er hatte immer noch keine Idee, was passiert sein könnte.
    Carla kam wieder und legte wortlos das Foto auf den Tisch.
    Enrico starrte sie fassungslos an. »Du?«, fragte er tonlos. »Du warst in Valle Coronata und hast die Tür aufgebrochen, um das Foto zu holen? Carla — hast du den Verstand

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