Der Kindersammler
aufgefallen.
Aber eine Frage blieb: Woher wusste Anne das alles? Wie hatte sie ihn gefunden? Wenn sie beobachtet hätte, wie Felix damals zu Ostern bei dem Gewitter in sein Auto gestiegen war, wäre sie sofort zur Polizei gegangen. Und wenn sie gesehen oder gehört hätte, dass Felix in Valle Coronata war, wäre sie ebenfalls zur Polizei gegangen und hätte ihn gerettet. Das konnte also nicht sein.
Zehn Jahre war das jetzt her. Zehn Jahre lang hatte es keine Fragen gegeben, keine Nachforschungen, nichts. Er war völlig unbehelligt geblieben. Auch was Filippo und Marco betraf, war ihm niemand auf die Spur gekommen. Er war nie in Verdacht geraten. Es hatte nie ein Gespräch mit einem Polizisten gegeben. Und dann tauchte plötzlich die Mutter des einen Jungen aus dem Nichts auf und kannte des Rätsels Lösung? Warum ging sie nicht sofort zur Polizei, ließ ihn festnehmen und den Pool von Spezialisten aufreißen? Nur um ihn zu quälen? Um ihre Rache länger auszukosten?
Auf diese Fragen musste es eine Antwort geben, wenn er seinen Frieden wiedererlangen wollte. Sicher rechnete sie nicht damit, dass er sie durchschaut hatte. Das war sein Vorteil. Jetzt ging es Zug um Zug, und es würde nicht diese Frau sein, die ihn am Ende schachmatt setzte. So weit würde er es nicht kommen lassen. Er hatte noch nie verloren, und er würde auch diesmal nicht verlieren.
Als Carla am frühen Morgen aus dem Haus kam, sah sie, dass Enrico immer noch am Tisch saß. In derselben Haltung, in der sie ihn vor mehreren Stunden verlassen hatte. Sie blinzelte verschlafen ins blasse Morgenlicht und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern erst einmal einen Kaffee zu kochen.
»Das Wetter schlägt um«, sagte Kai, als sie auf dem Rückweg waren. »Es ist jetzt schon verdammt windig, morgen wird es regnen.«
Kai hatte die lange Strecke von Olga Meria nach Valle Coronata gewählt, die nur durch den Wald führte. Eine Fahrzeug- oder Alkoholkontrolle der Carabinieri war das Letzte, was er heute Abend noch gebrauchen konnte. Er fuhr durch San Vincenti, sah sich aufmerksam um, ob Allora vielleicht irgendwo am Straßenrand hockte, aber er sah sie nirgends. Dann nahm er die kurvige Schotterstraße nach Montebenichi, bog im Ort kurz vor der Osteria rechts in einen holprigen Feldweg ab, dessen Zustand sich kontinuierlich verschlechterte, je weiter sie fuhren. Nach etwa zwei Kilometern passierten sie den Abzweig nach La Pecora. Kai sah zu Anne hinüber, aber in ihrem Gesichtsausdruck hatte sich nichts verändert.
Plötzlich schrie Anne auf. Kai trat auf die Bremse, und in diesem Moment lief unmittelbar vor ihnen ein Rudel Wildschweine über den Weg.
Dann fuhren sie langsam weiter durch dichten Tannenwald bis II Padiglione und danach die Serpentinenstraße hinunter bis Duddova, von wo aus sie auf den schmalen Weg nach Valle Coronata abbogen.
»Valle Coronata ist nicht mehr heilig«, meinte Anne nachdenklich. »Es ist entweiht. Irgendjemand war in meinem Haus, ist vielleicht durch alle Räume gegangen, hat meine Kleidung durchwühlt, meine Bettdecke berührt, meine Haarbürste benutzt und in meinen Spiegel geschaut. Gut, er hat nichts kaputtgemacht, aber es ist nicht mehr wie früher. Es ist ein verdammt mieses Gefühl, dass jemand ohne mein Wissen im Haus war. Verstehst du das?«
»Natürlich. Wenn du irgendwo Holz hast, vernagle ich dir heute Abend noch schnell die Küchentür.«
Anne hatte in ihrem Schrank noch eine Flasche Rotwein, die sie aufmachte, während Kai die Glasscherben der Küchentür zusammenfegte und dann die Öffnung mit zwei Brettern provisorisch verschloss.
»Nicht besonders schön«, meinte er, »aber man hat ein besseres Gefühl.«
»Ich frage mich, ob der Mörder das Bild wirklich durch Zufall entdeckt hat...«, überlegte Anne. »Denn wenn es so war, dann muss das für ihn auch ein Schock gewesen sein. Er guckt nichts ahnend in eine Küche und sieht das Foto seines Opfers! Stell dir das mal vor! Ich kann auch nicht ganz glauben, dass das ein Zufall gewesen sein soll. Da gebe ich Enrico Recht. Denn schließlich ist Felix in La Pecora verschwunden.
Valle Coronata ist ein geschlossenes Tal, da geht kein Mensch einfach nur mal so spazieren. Was hat Valle Coronata mit La Pecora zu tun?«
Kai zuckte nur die Achseln.
»Auf alle Fälle weiß der Mörderjetzt, wer ich bin und warum ich hier bin. Und das ist — verdammt noch mal — auch kein gutes Gefühl. Oder er wusste die ganze Zeit, wer ich bin und warum ich hier
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