Der Kindersammler
bin, und ist gezielt nach Valle Coronata gekommen. Vielleicht, um ein bisschen rumzuschnüffeln, um zu sehen, ob ich schon etwas rausgekriegt habe. Und bei dem Foto konnte er einfach nicht widerstehen. Das musste er haben. Und diese zweite Möglichkeit ist ein noch mieseres Gefühl.« Annes Gesicht glühte. »Ich hab Angst, Kai. Ich hab eine richtige Scheißangst. Weil ich jetzt weiß, dass ich ganz nahe dran bin. Weil ich jetzt weiß, dass es diesen Mörder hier wirklich noch irgendwo gibt und dass er hier immer noch frei herumläuft. Aber wenn ich auch nur daran denke, noch eine einzige Nacht allein in diesem verdammten Haus zu verbringen, wird mir schlecht. Ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Kai setzte sich zu Anne und legte seine Hand auf ihren Arm. »Nun mal langsam. Deine Theorie, dass der Mörder das Foto gestohlen hat, könnte stimmen. Etwas Logischeres ist mir jedenfalls auch noch nicht eingefallen. Aber es ist eben auch nur eine Theorie! Es muss nicht der Mörder sein! Verrenne dich nicht zu sehr in diesen Gedanken! Und ist dir mal aufgefallen, dass du ständig von ,dem Mörder< sprichst? Heute Morgen warst du dir noch nicht einmal sicher, ob Felix wirklich tot ist oder vielleicht doch noch lebt. Hast du die Hoffnung aufgegeben? Nur weil sein Foto geklaut worden ist?«
»Ich glaube, dass er tot ist. Ich glaube es zu wissen. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass er eines Tages als erwachsener junger Mann vor mir steht. Ja, das hab ich.«
»Heute? Durch diese mysteriöse Geschichte?«
Anne nickte. »la. Das war das Zeichen.«
Eine halbe Stunde später gingen sie schlafen. Anne lag in Kais Armbeuge und dankte dem Himmel, dass sie nicht allein war. Auch wenn sie sich den Abend und die Nacht ganz anders vorgestellt hatte.
Um sechs Uhr früh wurde Anne wach. Sie lauschte auf Kais regelmäßige Atemzüge und das leise Rauschen des Nussbaumes vor dem Fenster. Vereinzelt fingen Vögel an zu singen, und je mehr die Dämmerung voranschritt, umso lauter wurde das Gezwitscher. Vor wenigen Tagen war dies hier noch das Paradies für mich, dachte sie wehmütig, ich habe mich hier absolut sicher gefühlt, und jetzt sehne ich mich nach Friesland.
Immer wieder kreiste in ihrem Kopf nur die eine Frage: Was hat La Pecora mit Valle Coronata zu tun? Wie stehen die beiden in Verbindung? Wo ist der Zusammenhang? Wieso kommt der Mörder aus La Pecora hierher? Ich werde mit Eleonore reden, dachte sie, Eleonore wusste so viel, vielleicht hatte sie eine Erklärung.
Um sieben rüttelte sie Kai wach, der die Augen aufschlug, herzhaft gähnte und sie in seine Arme zog. »Weißt dm was ich jetzt mache? Ich springe in den Pool zu all den Kröten, Molchen und Schlangen, und du kommst mit!«
»Nein!« Anne entwand sich seinem Arm und rannte zur Tür. »Tu, was du nicht lassen kannst, aber ich dusche lieber.«
Als Kai aus dem Pool stieg, klapperte er mit den Zähnen und schimpfte. »Ein widerlicher Tümpel! Eiskalt, weil andauernd diese Unmengen Quellwasser durchfließen, und dann hat mich ständig was an den Beinen berührt. Wahrscheinlich nur Algen und Wasserpflanzen, aber ich hab richtig Panik gekriegt. Es ist mir völlig unverständlich, wie Enrico da jeden Tag reingehen konnte. Du musst das Ding unbedingt wegreißen und dir einen vernünftigen Pool bauen. Ohne Tiere, ohne Schlamm und ohne Algen. So ist das ja ekelhaft!«
Kai ging zu Anne unter die Dusche und fuhr mit dem Finger über ihren Körper. »Stell dir vor, du bist unter Wasser und du weißt nicht, was das ist ...«
Anne schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn fest an sich. »Nicht, Kai, mach mir keine Angst...«
Kai nahm sie in den Arm und hielt sie fest. Anne schloss die Augen, genoss das warme Wasser, das über ihr Gesicht lief, und seine Hand, deren Berührungen sich dem Fluss des Wassers anzupassen schienen. Und dann ließ sie sich fallen und schwamm auf einer Welle davon, die sie vergessen ließ, dass sie Angst hatte und in einem Haus wohnte, das ihr von Stunde zu Stunde unheimlicher wurde.
Nach dem Frühstück fuhr Kai ins Büro. Anne wusste, dass er jede Menge Termine hatte, und bat ihn nicht, am Abend wiederzukommen. Sie wollte sich trotz ihrer Unsicherheit nicht so unselbstständig aufführen wie eine Vierzehnjährige und ihn auch nicht unter Druck setzen. Aber als sein Auto hinter der Bergkuppe verschwunden war, bereute sie bereits, das nächste Wiedersehen nicht fest vereinbart zu haben.
Anne sah einen kaum zu bewältigenden Berg Zeit und Angst
Weitere Kostenlose Bücher