Der Kindersammler
hab nicht das Gefühl, dass sie sich Gedanken machen, dass sie ermitteln, nachforschen, was weiß ich. In den letzten zehn Jahren habe ich von der italienischen Polizei nicht einen einzigen Anruf bekommen, auch keinen Brief. Es passiert einfach nichts, und das macht mich ganz krank'«
Mareike nickte. »Ich denke schon, dass die Italiener ermitteln, davon bekommen Sie nur nichts mit, weil man Sie nicht auf dem Laufenden hält. Vielleicht ist das hier nicht üblich, keine Ahnung. Aber es ist auch deshalb so vertrackt, weil der Täter seine Opfer offenbar zufällig auswählt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihm einfach über den Weg laufen. Zufällig. Und wo soll man da ansetzen? Wo soll man anfangen, ihn zu suchen, wenn er derartig behutsam vorgeht, dass er so gut wie keine Spuren hinterlässt? Wahrscheinlich kennt die Polizei noch nicht mal die Tatorte, falls die Kinder wirklich ermordet worden sind, also lässt sich auch kein DNA-Material sicherstellen.« Sie seufzte. »Triebtäter, die keine Beziehung zu ihrem Opfer haben, lassen sich nur ganz schwer ermitteln. In der Stadt hat man es manchmal leichter, weil der Täter oft gezwungen ist, die Leichen irgendwo liegen zu lassen, er kann sich ihrer selten unbemerkt entledigen — aber hier in der Wildnis? Ein ganz schwieriger Fall.«
Mareike atmete tief durch und sah Anne mitfühlend an. »Ich fürchte, ich kann da nicht viel helfen. Schon gar nicht in einem kurzen Urlaub.«
Anne nickte. »Ja, ja, natürlich. Das hab ich auch nicht erwartet.«
»Was meinen Sie«, schaltete sich Eleonore zum ersten Mal in das Gespräch ein, »wird wieder etwas passieren? Wird wieder ein Kind verschwinden?«
Mareike überlegte einen Moment. »Ich glaube schon. Natürlich hat auch ein Mörder nicht das ewige Leben gepachtet. Er kann bei einem Autounfall verunglücken, einen Herzinfarkt bekommen oder bei der Olivenernte vom Baum fallen. Möglich ist alles. Und dann ist mit der Mordserie Schluss. Aber wenn er noch lebt, wird er weitermorden. Er wartet nur auf den richtigen Moment. Wartet geduldig, bis ihm das Schicksal wieder ein Kind in die Arme treibt.«
»0 Gott!« Anne stöhnte auf.
Eleonore trank bereits ihr viertes Zitronenwasser und hatte inzwischen wieder eine normale Gesichtsfarbe.
»Die Menschen hier in dieser Gegend sollten ein bisschen vorsichtig sein. Sollten ein Auge auf ihre Kinder haben, sie nicht allein im Wald oder am See spielen lassen. Und wenn sie einen weiten Schulweg durch unbewohntes Gelände haben, sollten sie sie lieber mit dem Auto hinbringen und auch wieder abholen.«
»Aber das weiß doch keiner! Die verschwundenen Kinder sind längst vergessen, und auf den Dreijahresrhythmus hat noch nie jemand aufmerksam gemacht!«
»Dann sollte man das schleunigst nachholen. Die ganze Geschichte in der Presse noch mal aufwärmen, obwohl...« Mareike strich sich die Haare aus der Stirn. Sie war in ihren Gedanken hin und her gerissen. »Es gibt Tätertypen, die wären durch eine Pressekampagne erst recht motiviert. Es gibt ihnen den absoluten Kick, genau dann zuzuschlagen, wenn alle Welt darauf wartet und sich vor dem nächsten Mord fürchtet. Und wieder wird die Leiche nicht gefunden. Der Täter lacht sich ins Fäustchen und fühlt sich noch großartiger und unangreifbarer als bei den ersten drei Morden. Er genießt seine Macht, weil er der Polizei demonstrieren kann, wie ohnmächtig sie ist. Und wenn es ihm gefällt, wird er der ganzen Welt beweisen, wie allmächtig er ist, und wieder und wieder morden. In immer kürzeren Abständen. Er wird maßlos und gerät in einen regelrechten Mordrausch.« Mareike drehte ein Papiertaschentuch zu einer kleinen Rolle, während sie weiterredete.
»Ich kann mir gut vorstellen dass wir es hier mit so einem Tätertyp zu tun haben. Er ist kurz davor, größenwahnsinnig zu werden, weil ihm keiner auf die Spur kommt. Er lebt in unmittelbarer Nähe der Tatorte, und keiner verdächtigt ihn. Das ist sensationell. Und der Täter ist davon überzeugt, dass er das gute Gelingen seiner Taten nur seiner fantastischen Intelligenz zu verdanken hat, die er mittlerweile für weit überdurchschnittlich hält.« Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch senkrecht in die Luft. »Nein, ich glaube, das Beste ist, man geht nicht an die Presse. Je unbeachteter der Täter sich fühlt, umso besser. Sonst macht man ihn nur noch wichtiger, und er hält sich wahrscheinlich auch so schon für den wichtigsten Menschen überhaupt.«
»Das
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