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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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nicht wecke, schläft sie meist sehr lange. Manchmal sogar bis zum Mittag.«
    Anne nickte und blies die Kerze aus.
    »Es ist schwer, ein Haus zu verkaufen, das man selbst aufgebaut hat«, sagte Enrico plötzlich völlig unvermittelt. »Es ist, als wenn ein Kind erwachsen wird und in ein anderes Land geht. Irgendwohin, wo es beinah unerreichbar ist. Vor dir waren schon drei Interessenten hier, die Valle Coronata kaufen wollten, aber ich hab es ihnen nicht gegeben.«
    »Davon hat mir Kai gar nichts erzählt!«
    »Diese Interessenten hatte er mir auch nicht vermittelt. Ich hatte im Lokalanzeiger von Ambra annonciert. Unter Chiffre.« »Warum hast du Valle Coronata diesen Leuten nicht verkauft?«
    Enrico zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Es war nur so ein diffuses Gefühl, dass es nicht die Richtigen sind. Dass sie Valle Coronata nicht zu schätzen wissen und — und das war das Wichtigste — dass sie nicht hierher gehören. Aber als du kamst...«, er machte eine bedeutungsvolle Pause und lächelte, »da wusste ich auf Anhieb, dass dieses Haus nur auf dich gewartet hat.«
    »Es wäre schön, wenn du Recht hast«, sagte Anne leise.
    »Es ist ein magischer Ort«, meinte Enrico.
    »Das merke ich schon eine ganze Weile, eigentlich jeden Tag.« Also hatte Enrico es auch gespürt, dass Valle Coronata etwas Besonderes an sich hatte. Ein beinah beruhigender Gedanke.
    »Man muss sensibel mit diesem Ort umgehen, Anne, man darf seine Magie nicht stören, sonst geht der Friede verloren, der über diesem Tal liegt.«
    Enrico stand auf und nahm Anne in den Arm. »Schlaf gut. Und danke für das Nachtasyl!« Er lächelte, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und verließ die Küche. Anne sah noch, wie in der Mühle das Licht anging und die Gardine hinter der Glastür zugezogen wurde.
    Wenig später im Bett grübelte sie darüber nach, was Enrico gesagt hatte. Wie konnte man den Frieden des Tals überhaupt stören? Indem man ein Fest veranstaltete? Oder indem man Bäume fällte oder den Pool umbaute?
    Morgen früh frage ich ihn, wie er das gemeint hat, dachte sie noch, und dann war sie auch schon eingeschlafen.
    Aber Anne kam nicht mehr dazu ihn zu fragen. Als sie kurz nach Sonnenaufgang durch den Gesang der Vögel wach wurde, war Enrico nicht mehr da. Die Mühle sah genauso aus wie an den Tagen zuvor, die Matratze lehnte im unteren Raum vor der Badezimmertür. Anne konnte beim besten Willen nicht feststellen, ob Enrico in der Mühle übernachtet hatte oder nicht.
    81
    Während Bettina in diesem Urlaub vor Energie beinah zu explodieren schien, fiel Mareike in tiefe Lethargie und wünschte sich nur noch zu schlafen und tagsüber bewegungslos im Liegestuhl dahinzudämmern. An diesem Morgen war Bettina bereits um sieben aus dem Bett gesprungen, mit einer Schnelligkeit, die bei Mareike mit Sicherheit einen Kreislaufzusammenbruch zur Folge gehabt hätte. Bereits unter der Dusche sang Bettina aus vollem Hals schmalzige Lieder von Julio Iglesias. Mareike hörte es im Halbschlaf und über legte, ob es die reine Lebensfreude ausdrücken oder die Kinder auf brutale Weise wecken sollte. Als der Geruch von heißem Kaffee durch die
    Ferienwohnung zog, stand Mareike auf. Sie wollte ihre Freundin nicht verärgern.
    Es war ein ungewöhnlich warmer Oktobertag. Mareike erschien in Shorts und Sweatshirt auf der Terrasse, auf der Bettina bereits gedeckt hatte. Sie küsste Bettina auf die Wange, und Bettina strahlte.
    »Mein Gott, was haben wir für ein Glück!«, sagte Mareike. »Im Oktober noch draußen frühstücken! Das ist fantastisch. In Deutschland ist absolutes Sauwetter!«
    »Was hältst du davon, wenn wir heute Richtung Grosseto ans Meer fahren? Ein bisschen am Strand spazieren gehen, in irgendeiner gemütlichen Kneipe Fisch essen...?«
    »Wunderbar«, sagte Mareike, »doch wirklich, das ist eine tolle Idee. Aber lass mich zu Hause, ja? Es ist mir einfach zu viel, anderthalb Stunden hin und anderthalb Stunden zurück im Auto zu sitzen. Und dann sind mir da auch zu viele Leute.«
    Bettina konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Der ganze Elan für diesen sonnigen Tag schien verflogen.
    »Ich habe nicht gewusst, wie kaputt ich bin«, erklärte Mareike, »wie erholungsbedürftig. Ich habe in Berlin offensichtlich weit über meine Kräfte gelebt. Ich will einfach nur noch meine Ruhe haben, sonst bringt mir der Urlaub nicht viel.«
    Bettina nickte enttäuscht.
    »Das verstehst du nicht, oder?«
    »Doch, doch. Schon klar. Dann fahre ich eben allein

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