Der Kindersammler
Schild vor sich her, auf dem »Frau Küppersberg« stand. Anne musste lächeln. Kein Italiener würde diesen Namen jemals lesen oder aussprechen können, sie brachen sich ja schon bei einfachen Worten wie »Küken« oder »Kuchen« die Zunge.
Auf dem kleinen Bildschirm unterhalb der Decke erschien in winziger Schrift hinter dem Lufthansa-Flug aus München das Zeichen »arrivato«, und kurz darauf kam Harald durch die sich automatischen öffnende Schiebetür.
Er sieht klasse aus, dachte Anne, viel besser als früher. Es hat ihm gut getan, dass ich mal ein paar Wochen nicht für ihn gekocht habe.
Harald grinste wie ein kleiner Junge, als er Anne unter den Wartenden entdeckte.
»Hallo«, sagte er, als er auf sie zukam, und »hallo«, erwiderte auch Anne. Beide sahen sich etwas verlegen an und wussten nicht, was sie sonst noch sagen sollten. Dann zog Harald Anne fest an sich und küsste sie auf die Wange.
»Schön, dass du da bist«, stammelte sie und nahm seine Hand. »Komm, mein Wagen steht im Parkverbot direkt vor der Abflughalle. Ich kann es kaum erwarten, dein Gesicht zu sehen, wenn du das Tal zum ersten Mal siehst.«
Harald war ähnlich beeindruckt wie Anne, als sie Valle Coronata zum ersten Mal gesehen hatte. »Mein Gott, ist das romantisch«, sagte er, als sie gemeinsam den Weg zum Haus hinuntergingen. »Fantastisch. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Jetzt verstehe ich sogar, dass du dich Hals über Kopf in dieses Fleckchen Erde verliebt hast.«
Dann stellte er seine Reisetasche unter dem Nussbaum ab und betrat das Haus. Langsam ging er von Raum zu Raum, befühlte hier eine Wand, da eine Tür oder strich mit der Hand über den Fußboden. Er prüfte die Fenster und das Schließen der Türen und sagte nichts.
»Ist das Dach dicht?«, fragte er, als er seinen Rundgang beendet hatte.
»Ich denke schon, noch hat es aber nicht viel geregnet.«
»Es ist nicht perfekt«, meinte Harald schließlich. »Die Türen und Fenster sind ziemlich dilettantisch gebaut, aber es ist schön. Es hat Atmosphäre, ich glaube, ich sollte dich zu deinem Tal beglückwünschen.« Er sagte »dein« und nicht »unser«.
Dann nahm er Anne in den Arm, und sie lehnte sich schwer und entspannt an ihn. Die Zustimmung ihres Mannes tat ihr ungeheuer gut, und erst jetzt merkte sie, wie sehr sie das vermisst hatte.
Anne hatte einen Thunfisch-Bohnen-Salat vorbereitet und kochte dazu noch Penne all' arrabbiata, weil sie wusste, dass Harald scharfe Chili-Tomaten-Soße liebte.
Harald redete fast den ganzen Abend, weil Anne alle Neuigkeiten aus Friesland wissen wollte. Sie fragte auch nach Pamela, aber Harald sagte, er habe sie schon wochenlang nicht mehr gesehen, vielleicht sei sie gar nicht im Dorf, er wisse es nicht. Anne glaubte es ihm sogar.
Während Harald erzählte, spürte Anne, dass so etwas wie Heimweh nach Friesland in ihr aufstieg, und sie beschloss, spätestens in einem Monat nach Hause zurückzukehren. Auf keinen Fall wollte sie den Winter allein im Tal verbringen.
Anne hatte eigentlich nicht vor, Harald gleich am ersten Abend zu erzählen, was sie erlebt hatte, aber nachdem sie zwei Flaschen Wein getrunken hatten, konnte sie nicht anders. Als Harald die beinah belanglose Frage stellte: »Und? Hast du irgendetwas über Felix in Erfahrung gebracht?«, erzählte Anne die ganze Geschichte. Sie verschwieg nichts. Nicht die Affäre mit Kai, nicht die merkwürdige Allora und auch nicht die Kommissarin, die erst vor wenigen Stunden da gewesen war. Und natürlich erzählte sie auch wieder von dem Foto und allen Spekulationen, die es darüber gab.
Ebenso wie Mareike hörte Harald schweigend zu, und Anne bemerkte, dass sich tiefe Falten von seinen Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln gebildet hatten, die ihr früher nie aufgefallen waren. Sein Gesichtsausdruck war nicht nur ernst, sondern streng, und das beunruhigte sie.
Als sie fertig war, überlegte er eine Weile, knetete seine Fingerknöchel und kaute auf seiner Oberlippe herum. Dann sagte er: »Du willst mir doch nicht im
Ernst weismachen, dass du hier dieses Tal gekauft hast, einfach so, weil es dir gefiel, und jetzt soll es just der Ort sein, wo sich der Mörder herumtreibt oder Felix eventuell sogar begraben ist? Obendrein noch im Pool? Das ist ja die al lergrößte Schnapsidee. Du fantasierst dir da was zurecht, nur weil eine Verrückte oder eine Schwachsinnige, die nicht lesen, nicht schreiben und nicht sprechen kann, ab und zu Rosen ins Wasser wirft? Das alles versuchst
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