Der Kindersammler
machte und die ihm schon so manches Mal ins Ohr gefl ü stert hatte: » Ich liebe dich, kleiner Mann. « Und er dachte an seinen Vater, der ihm schon x-mal das Fahrrad repariert hatte, der auf Geburtstagsfeiern perfekt andere Leute nachmachen konnte, der so gerne Country-Musik h ö rte und jeden Winter mit ihm auf dem Insulaner rodeln ging. Er wusste nicht, wie er diese Sehnsucht nach seinen Eltern ü berhaupt noch aushalten sollte.
Langsam zog sich Benjamin das T-Shirt ü ber den Kopf.
» Die Unterhose auch « , sagte Alfred und beugte sich ein St ü ck weiter vor.
Durch eine Ö ffnung in der Gardine, die ü ber dem Bett am Fenster hing, konnte Benjamin den Himmel sehen. Er hatte die Unterhose ausgezogen und lag jetzt v ö llig nackt da.
» Es schneit « , sagte er leise. » Bald ist Weihnachten. « Und dann fing er an zu weinen.
6
Milli war total best ü rzt. » Benny is nich nach Hause jekommen? Det jib's doch janich! Gerade Benny! Der is doch son netter Junge! «
Milk war siebenundf ü nfzig, sah aus wie siebenundf ü nfzig und stand seit drei ß ig Jahren mit ihrem Imbisswagen im Berliner Kiez, zweiundzwanzig davon in Neuk ö lln am Wildenbruchplatz. Sie hatte ihr flammend rotes Haar, das sie akribisch jede Woche nachf ä rbte, zu einem Dutt gesteckt, der auf ihrem Kopf thronte und jedes Jahr einen Zentimeter h ö her wurde. Wenn im Kiez irgendetwas passierte — Milli wusste es und gab ihr Wissen auch gerne weiter.
» Wann war Benny denn das letzte Mal hier? « , fragte Peter.
Milli ü berlegte. » Also heute janz bestimmt nich. Jestern? Ja, jetzt erinner ick mich. Jestern war er kurz hier, hat ne Bulette jejessen. Aber sag mal, wo kann denn der Bengel sein? «
» Wenn ich das w ü sste. « Peter wirkte ersch ö pft und resigniert. Es war jetzt halb f ü nf, er war zwei Stunden durch die Gegend gelaufen, hatte in Kneipen, D ö ner-Buden und Kiosken nachgefragt, an denen auch S üß igkeiten verkauft werden, hatte s ä mtliche KarstadtAbteilungen durchforstet, ohne Erfolg. In der Spielwarenabteilung hatte er auch nach Benjamin gefragt und eine Beschreibung abgegeben, aber niemand konnte sich an den Jungen erinnern. Wie auch. Der Verk ä ufer mit der Elvis-Frisur arbeitete nur halbtags und war um eins nach Hause gegangen.
Peter wusste die ganze Zeit, wie sinnlos seine Suche war, denn Benjamin war kein Kind, das stundenlang in der Stadt herumlungerte und nicht nach Hause kam. Benjamin hatte Angst um seine Mutter und tat alles, um Kummer, Ä rger und Aufregung von ihr fern zu halten. Er wusste, dass sie sich Sorgen machte, wenn er unp ü nktlich war. Daher hatte er es sich auch zur Angewohnheit ge macht, anzurufen, wenn er noch zu einem Freund ging oder es aus irgendeinem Grund sp ä ter wurde.
Benjamin war ein liebes und vor allem verl ä ssliches Kind. Ein Kind, das sich sogar entschuldigen konnte. Ein Kind, das » is schon um die Ecke « sagte, wenn seine Eltern einen Fehler gemacht hatten. Ein Kind, das seiner Mutter eine Blume mit nach Hause brachte oder ein Bild malte, wenn es das Gef ü hl hatte, dass sie traurig war. Ein Kind, das seinen Vater immer noch umarmen konnte.
So ein Kind blieb nicht ohne Grund so lange von zu Hause weg. Peter sp ü rte im tiefsten Inneren seines Herzens, dass etwas passiert war. Etwas Schreckliches. Daher z ö gerte er es noch hinaus, nach Hause zu gehen. Marianne sah ihm immer an der Nasenspitze an, was los war. Die Hoffnung, die sie brauchte, konnte er nicht vort ä uschen.
Milli schenkte ihm einen Schnaps ein. » Hier. Trink det. Dann jeht's dir besser. Wenigstens f ü r zwee Minuten. «
Peter nahm den Schnaps dankbar an und kippte ihn hinunter. » Hast du unsere Telefonnummer, Milli? «
Milli fasste sich in ihr w ü stes Haarnest und w ü hlte darin herum, ohne es zu zerst ö ren. » Hab ick. Aber frag mich nich, wo. « Sie schob Peter einen Zettel und einen Bleistift ü ber den Tresen. » Schreib mal lieber noch mal uff. «
Peter schrieb eilig die Nummer auf. » Bitte ruf uns an, wenn du ihn siehst oder wenn du was h ö rst. Ganz egal, was. Du kannst uns jederzeit anrufen. Auch mitten in der Nacht. Ja? «
Milli steckte den Zettel ein. » Na klar, mach ick doch. «
Peter nickte und ging mit gesenktem Kopf davon. Milli hielt ihn auf. » Ach, Peter! «
Peter drehte sich um.
» Kopp hoch « , sagte Milli und versuchte zu l ä cheln. Peter war ihr dankbar daf ü r.
Bitte, bitte, bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass ein Wunder geschieht, betete Benjamin,
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